Achtung! Die Seite wird derzeit nicht aktualisiert. Die Inhalte sind im wesentlichen auf dem Stand 31.12.2011
Achtung! Die Seite wird derzeit nicht aktualisiert. Die Inhalte sind im wesentlichen auf dem Stand 31.12.2011
Pressemitteilung
1 BvR 1634/04;
Verkündet am: 
 25.08.2010
BVerfG Bundesverfassungsgericht
 

Rechtskräftig: unbekannt!
Versagung verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen einen Kostenbescheid für eine polizeiliche Ingewahrsamnahme verfassungswidrig
Am 3./4. März 2001 fand an einem Bahnübergang im Landkreis Lüchow-Dannenberg die gegen den Castor-Transport gerichtete Versammlung „Nacht im Gleisbett“ statt. Diese wurde gegen Abend aufgelöst, als sich ein Teil der Demonstranten den Gleisen näherte. Dabei wurde der Beschwerdeführer in polizeilichen Gewahrsam genommen und für eine Identitätsfeststellung zur Polizeiinspektion in Lüchow gebracht. Eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit der insgesamt circa fünf Stunden dauernden polizeilichen Maßnahme wurde nicht herbeigeführt. Sechs Monate später wurden dem Beschwerdeführer die Kosten für die polizeiliche Ingewahrsamnahme auferlegt.

Seine vor den Verwaltungsgerichten erhobene Klage gegen den Kostenbescheid blieb in allen Instanzen erfolglos.

Die Verwaltungsgerichte begründeten dies damit, dass sie im Rahmen der Prüfung des Kostenbescheides zwar die Rechtmäßigkeit der Auflösung der Versammlung, nicht aber inzident die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme prüfen könnten, da für letztere die Zuständigkeit des Amtsgerichts gegeben sei. Es falle in den Risikobereich des Beschwerdeführers, wenn er im Anschluss an die Ingewahrsamnahme von dieser Rechtsschutzmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht habe.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG.

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben.

Diese werden den verfassungsrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf das Gebot einer umfassenden Nachprüfung des Verwaltungshandelns nicht gerecht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Zwar kann sich der Landesgesetzgeber dafür entscheiden, den Rechtsschutz gegen polizeiliche Ingewahrsamnahmen den Amtsgerichten anzuvertrauen, während er die nachgelagerte Prüfung der Rechtmäßigkeit des auf der Ingewahrsamnahme beruhenden Kostenbescheides bei den Verwaltungsgerichten belässt. Eine solche Rechtswegspaltung hat aber nicht automatisch zur Folge, dass es einem angerufenen Gericht verwehrt ist, Vorfragen zu prüfen, die, wären sie Hauptfrage, in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Gerichts fielen. Vielmehr gilt als Ausfluss des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz der Grundsatz, dass das Gericht des zulässigen Rechtsweges den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet. Dies bedeutet, dass das Gericht des zulässigen Rechtswegs auch rechtswegfremde, entscheidungserhebliche Vorfragen prüft und über sie entscheidet. Da das einschlägige Landesrecht die Inzidentprüfung der polizeilichen Ingewahrsamnahme durch die Verwaltungsgerichte im Rahmen der Kontrolle nachgelagerter Hoheitsakte weder ausdrücklich ausschließt noch eine materielle Präklusion der dagegen gerichteten Einwände anordnet, entfaltet der Hoheitsakt der polizeilichen Ingewahrsamnahme für den später erlassenen Kostenbescheid keine Vorwirkung. Dementsprechend muss sich der betroffene Bürger, wendet er sich gegen den später erlassenen Kostenbescheid, nicht entgegenhalten lassen, dass er zuvor von der Rechtsschutzmöglichkeit gegen die polizeiliche Ingewahrsamnahme keinen Gebrauch gemacht hat.

Im Übrigen ging der Hinweis der Verwaltungsgerichte auf eine vorrangige Entscheidung des Amtsgerichts auch ins Leere. Der Rechtsweg zu den Amtsgerichten war nach der damals geltenden Landesnorm nur für den Fall eröffnet, dass die Freiheitsbeschränkung entweder länger als acht Stunden andauerte oder für die Feststellung ein „sonstiges berechtigtes Interesse“ bestand. Dass diese Voraussetzungen hier vorlagen, ist den angegriffenen Entscheidungen nicht zu entnehmen.

Schließlich kann der Verzicht auf die Inzidentprüfung der polizeilichen Ingewahrsamnahme nicht durch die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auflösung der Versammlung nach dem Versammlungsgesetz des Bundes kompensiert werden. Die polizeiliche Ingewahrsamnahme und die versammlungsrechtliche Auflösung unterfallen von Verfassungs wegen sich gegenseitig ausschließenden Regelungsregimen.
-----------------------------------------------------
Die von uns erfassten Urteile wurden oft anders formatiert als das Original. Dies bedeutet, daß Absätze eingefügt und Hervorhebungen durch fett-/kursiv-/&farbig-machen sowie Unterstreichungen vorgenommen wurden. Dies soll verdeutlichen, aber keinesfalls natürlich den Sinn verändern.Wenn Sie vorsichtshalber zusätzlich die Originalversion sehen möchten, hier ist der Link zur Quelle (kein Link? Dann ist dieser Link nicht in unserer DB gespeichert, z.B. weil das Urteil vor Frühjahr 2009 gespeichert worden ist).
       URTEILE GESETZE/VO KOMMENTARE VIDEOS ÜBER UNS IMPRESSUM