Der Rahmenbeschluss, der die Ãœberstellung einer zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Person zwischen zwei Mitgliedstaaten regelt, hat keine unmittelbare Wirkung
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Mit Urteil vom 28. November 2012 wurde Herr Atanas Ognyanov, ein bulgarischer Staatsangehöriger, in Dänemark wegen Mordes und schweren Raubes zu 15 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt.
Herr Ognyanov befand sich in Dänemark vom 10. Januar bis zum 28. November 2012, dem Tag, an dem seine Verurteilung Rechtskraft erlangte, in Untersuchungshaft. Vom 28. November 201 bis zum 1. Oktober 2013 verbüßte er einen Teil seiner Strafe in Dänemark. Während seiner Haft in Dänemark arbeitete Herr Ognyanov vom 23. Januar 2012 bis zum 30. September 2013. Am 1. Oktober 2013 wurde er an ein Gefängnis in Bulgarien überstellt.
Der Rahmenbeschluss, der die Ãœberstellung einer zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Person zwischen zwei Mitgliedstaaten regelt
1, stellt als allgemeine Regel auf, dass auf die Vollstreckung einer Sanktion das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar ist. Die Behörden dieses Staates sind daher zuständig, über die Strafvollstreckungsverfahren zu entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen festzulegen; dies gilt auch für die Gründe einer etwaigen vorzeitigen oder bedingten Entlassung. Zudem muss die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats die volle Dauer der bereits im anderen Mitgliedstaat (Ausstellungsstaat) verbüßten Haft anrechnen.
Das bulgarische Recht sieht vor, dass die von der verurteilten Person geleistete Arbeit zur Verkürzung der Strafdauer angerechnet wird, wobei zwei Arbeitstage als drei Tage Freiheitsentzug gelten
2. Gemäß einer am 12. November 2013 vom Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) erlassenen Auslegungsentscheidung gilt diese Regelung des bulgarischen Rechts auch für den Fall, dass eine verurteilte Person während ihrer Haft in einem anderen Mitgliedstaat als Bulgarien Arbeit geleistet hat, bevor sie an Bulgarien überstellt wurde, um dort die Reststrafe zu verbüßen.
Bei der Überstellung von Herrn Ognyanov an Bulgarien wiesen die dänischen Behörden ausdrücklich darauf hin, dass das dänische Gesetz keine Verkürzung der Gefängnisstrafe aufgrund der während der Haft geleisteten Arbeit vorsehe.
Der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) möchte vom Gerichtshof wissen, ob die nationale Vorschrift, die den Vollstreckungsstaat (hier Bulgarien) berechtigt, der verurteilten Person aufgrund der während ihrer Haft im Ausstellungsstaat (hier Dänemark) von ihr geleisteten Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren, obwohl die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats nach ihrem nationalen Recht eine solche Strafverkürzung nicht gewährt haben, in Einklang mit dem Unionsrecht steht.
Nach Auffassung des Gerichtshofs ist es Sache des Ausstellungsstaats, die Strafverkürzungen hinsichtlich des in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegten Haftzeitraums festzulegen. Nur er ist befugt, für die vor der Überstellung geleistete Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren. Daher darf der Vollstreckungsstaat in Bezug auf den Teil der Strafe, den der Häftling bereits im Hoheitsgebiet des Ausstellungsstaats verbüßt hat, nicht rückwirkend seine eigenen Vorschriften (insbesondere die über Strafverkürzungen) anstelle derjenigen des Ausstellungsstaats anwenden.
Im vorliegenden Fall haben die dänischen Behörden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das dänische Gesetz keine Verkürzung der Gefängnisstrafe aufgrund der während der Haft geleisteten Arbeit vorsehe. Folglich dürfen die bulgarischen Behörden in Bezug auf den bereits in Dänemark verbüßten Teil der Strafe keine Strafverkürzung gewähren. Eine unionsrechtswidrige Auslegung könnte die mit diesem Recht verfolgten Ziele (insbesondere den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung) beeinträchtigen und so das wechselseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtssysteme der übrigen Mitgliedstaaten untergraben.
Der Gerichtshof kommt zum Ergebnis, dass
das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Vollstreckungsstaat berechtigt, der verurteilten Person aufgrund der während ihrer Haft im Ausstellungsstaat von ihr geleisteten Arbeit eine Strafverkürzung zu gewähren, obwohl die zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats nach dessen Recht eine solche Strafverkürzung nicht gewährt haben.
Im Rahmen dieser Rechtssache ist der Gerichtshof auch zu den Rechtswirkungen der Rahmenbeschlüsse befragt worden.
Hierzu stellt er fest, dass der hier anwendbare Rahmenbeschluss auf der Grundlage des ehemaligen dritten Pfeilers der Union, u. a. gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU erlassen wurde. Nach dieser Bestimmung in Verbindung mit dem mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erlassenen Protokoll über die Übergangsbestimmungen haben die Rahmenbeschlüsse keine unmittelbare Wirkung, solange sie nicht in Anwendung des Vertrags von Lissabon aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert worden sind. Der hier anwendbare Rahmenbeschluss ist nicht in dieser Weise aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert worden. Daher entfaltet er keine unmittelbare Wirkung.
Der Gerichtshof weist auch darauf hin, dass das nationale Gericht bei der Auslegung des nationalen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses auslegen muss, um das im Rahmenbeschluss festgelegte Ziel zu erreichen. Zudem umfasst dieses Erfordernis einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte, einschließlich der letztinstanzlichen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen eines Rahmenbeschlusses nicht vereinbar ist.
Im Hinblick auf diese Grundsätze kommt der Gerichtshof zum Ergebnis, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, für die volle Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls die durch den Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) vorgenommene Auslegung aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, da diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.
2So würde im Fall von Herrn Ognyanov der Zeitraum von ca. einem Jahr und neun Monaten, den er in Dänemark im Gefängnis verbracht hat, einem Zeitraum von nahezu zwei Jahren und sieben Monaten entsprechen, was eine Verkürzung der fünfzehnjährigen Gefängnisstrafe um diesen Zeitraum ermöglichen und Herrn Ognyanov daher zu einer vorzeitigen Freilassung verhelfen würde.