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Pressemitteilung
C-105/14;
Verkündet am: 
 08.09.2015
EuGH Europäischer Gerichtshof
 

Rechtskräftig: unbekannt!
Indem das italienische Recht bei schwerem Mehrwertsteuerbetrug aufgrund einer zu kurzen Gesamtverjährungsfrist die Verhängung wirksamer und abschreckender Sanktionen verhindert, kann es die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen
Leitsatz des Gerichts:
In einem solchen Fall muss das italienische Gericht erforderlichenfalls die fragliche Gesamtverjährungsregelung unangewendet lassen
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Herrn Ivo Taricco und anderen wird in Italien zur Last gelegt, in den Jahren 2005 bis 2009 eine kriminelle Vereinigung gegründet und organisiert zu haben, in deren Rahmen sie betrügerische rechtliche Konstruktionen in Form eines „Mehrwertsteuerkarussells“ geschaffen haben sollen. Mit Hilfe von Scheingesellschaften und falschen Unterlagen hätten sie Champagnerflaschen mehrwertsteuerfrei erworben. Dadurch habe eine Gesellschaft namens Planet über diese Flaschen zu einem geringeren als dem Marktpreis verfügen und so den Markt verfälschen können.

Planet habe Rechnungen erhalten, die von den Scheingesellschaften für inexistente Umsätze ausgestellt worden seien. Diese Gesellschaften hätten jedoch keine JahresMehrwertsteuererklärungen abgegeben oder, falls doch, jedenfalls nicht die entsprechenden Zahlungen geleistet. Planet hingegen habe die von den Scheingesellschaften ausgestellten Rechnungen verbucht, indem sie zu Unrecht die darin enthaltene Mehrwertsteuer abgezogen und folglich betrügerische Jahres-Mehrwertsteuererklärungen abgegeben habe.

Hinsichtlich eines Teils der gegen die Angeschuldigten eingeleiteten Strafverfahren ist Verjährung eingetreten. Für den Rest wird dies spätestens am 8. Februar 2018 der Fall sein. Bis dahin kann wegen der Komplexität der Ermittlungen und der Länge des Verfahrens kein endgültiges Urteil ergehen. In Italien ist eine solche Situation wegen der Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechts nicht ungewöhnlich. Dieses erlaubte, als sich der in Rede stehende Sachverhalt ereignete, eine Verlängerung der Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel ihrer Dauer (im vorliegenden Fall insgesamt zwischen sieben und acht Jahre, was keine Frist ist, die für das Ergehen eines endgültigen Kassationsurteils ausreicht). Dies hat zur Folge, dass Herr Taricco und die anderen, die verdächtigt werden, einen Mehrwertsteuerbetrug in Höhe von mehreren Millionen Euro begangen zu haben, wegen des Ablaufs der Verjährungsfrist de facto straflos bleiben könnten.

Das mit dem Verfahren befasste Tribunale di Cuneo (Italien) fragt sich, ob das italienische Recht dadurch, dass es den Personen und Unternehmen, die gegen die Strafvorschriften verstoßen, letztlich Straffreiheit garantiert, nicht etwa eine neue Möglichkeit der Befreiung von der Mehrwertsteuer eingeführt hat, die vom Unionsrecht nicht vorgesehen ist. Es bittet den Gerichtshof hierzu um Aufklärung.

In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 325 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, mit abschreckenden und effektiven Maßnahmen bekämpfen und insbesondere die gleichen Maßnahmen ergreifen müssen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richtet. Zudem weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Haushalt der Union u. a. durch die Einnahmen finanziert wird, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, so dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung dieser Einnahmen und den finanziellen Interessen der Union besteht.

Unter Berücksichtigung dessen muss das italienische Gericht prüfen, ob das fragliche italienische Recht erlaubt, die schweren Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union wirksam und abschreckend zu ahnden. So stünde das italienische Recht nicht mit Art. 325 AEUV in Einklang, wenn das italienische Gericht zu dem Ergebnis käme, dass eine beträchtliche Anzahl von schweren Betrugsfällen nicht strafrechtlich geahndet werden könnte, weil die Verjährungsregeln im Allgemeinen das Ergehen endgültiger gerichtlicher Entscheidungen verhindern. Ebenso stünde das italienische Recht nicht mit Art. 325 AEUV in Einklang, wenn es für Betrugsfälle, die sich gegen die finanziellen Interessen Italiens richten, längere Verjährungsfristen vorsähe als für Betrugsfälle, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten. Dies scheint der Fall zu sein, da im italienischen Recht für Zusammenschlüsse zur Begehung von Delikten auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern auf Tabakerzeugnisse keine absolute Verjährungsfrist vorgesehen ist.

Für den Fall, dass das italienische Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass ein Verstoß gegen Art. 325 AEUV vorliegt, stellt der Gerichtshof klar, dass es dann die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten muss, indem es erforderlichenfalls die fraglichen Verjährungsregeln unangewendet lässt. Art. 325 AEUV hat nämlich gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Folge, dass allein durch sein Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden nationalen Rechts ohne Weiteres unanwendbar wird.

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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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