Die italienische Regelung über befristete Arbeitsverträge im Schulbereich verstößt gegen das Unionsrecht
Die unbegrenzte Verlängerung solcher Verträge zur Deckung eines ständigen und dauerhaften Bedarfs der staatlichen Schulen ist nicht gerechtfertigt
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Die italienischen Rechtsvorschriften enthalten eine Regelung für die Vertretung von Lehr- und Verwaltungskräften der staatlichen Schulen. Nach dieser Regelung werden u. a. die tatsächlich bis zum 31. Dezember freien und verfügbaren Stellen
„bis zum Abschluss von Auswahlverfahren“ durch Jahresvertretungen besetzt. Dabei wird auf Ranglisten zurückgegriffen, in die, nach Dienstalter gestaffelt, Lehrkräfte aufgenommen werden, die ein Auswahlverfahren bestanden, aber keine Festanstellung erhalten haben, sowie Lehrkräfte, die von Weiterbildungsschulen für den Unterricht veranstaltete Lehrgänge besucht haben. Lehrkräfte, die solche Vertretungen wahrnehmen, können nach Maßgabe verfügbarer Stellen und ihres Vorrückens auf den Listen eine Planstelle erhalten. Dies kann auch unmittelbar aufgrund des Bestehens eines Auswahlverfahrens geschehen. Von 1999 bis 2011 fanden jedoch keine Auswahlverfahren statt.
Frau Raffaella Mascolo, Frau Carla Napolitano und weitere Personen waren in öffentlichen Schulen auf der Grundlage aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge als Lehr- und Verwaltungskräfte tätig. Die Dauer ihrer Beschäftigung war verschieden, betrug aber in keinem Fall weniger als 45 Monate in fünf Jahren. Da sie die genannten Verträge für rechtswidrig halten, haben sie auf deren Umqualifizierung in unbefristete Arbeitsverhältnisse, auf Zuweisung einer Planstelle, auf Zahlung der Gehälter für die Zeiträume der Unterbrechungen zwischen den Verträgen und auf Schadensersatz geklagt.
Die Corte costituzionale (italienischer Verfassungsgerichtshof) und das Tribunale di Napoli (Gericht von Neapel) wollen vom Gerichtshof wissen, ob die italienische Regelung mit der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge
1 vereinbar ist und ob die Rahmenvereinbarung es insbesondere gestattet, bis zum Abschluss von Auswahlverfahren zur Einstellung von planmäßigem Personal der staatlichen Schulen befristete Arbeitsverträge zur Besetzung freier und verfügbarer Planstellen zu verlängern, ohne einen genauen Zeitplan für den Abschluss der Auswahlverfahren anzugeben und unter Ausschluss jeder Ersatzmöglichkeit für den durch eine solche Verlängerung entstandenen Schaden.
In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die
Rahmenvereinbarung auf alle Arbeitnehmer anwendbar ist, ohne Unterscheidung danach, ob sie einen öffentlichen oder einen privaten Arbeitgeber haben, und unabhängig von der betroffenen Branche. Die Rahmenvereinbarung gilt somit für
Arbeitnehmer, die – als Lehrkräfte oder Verwaltungsmitarbeiter –
eingestellt wurden, um Jahresvertretungen in staatlichen Schulen wahrzunehmen2.
Zur Vermeidung des missbräuchlichen Einsatzes aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge verpflichtet die Rahmenvereinbarung die Mitgliedstaaten, mindestens eine der folgenden Maßnahmen zu ergreifen3: Angabe
sachlicher Gründe, die die Verlängerung der Verträge rechtfertigen, Festlegung der
insgesamt maximal zulässigen Dauer der Verträge oder Festlegung der zulässigen Zahl ihrer Verlängerungen. Überdies muss, um die volle Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung sicherzustellen, der missbräuchliche Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge
geahndet werden. Die insoweit getroffene Maßnahme
muss verhältnismäßig, effektiv und abschreckend sein.
Die Präventivmaßnahmen
Die italienische Regelung sieht weder Maßnahmen zur Begrenzung der insgesamt zulässigen Dauer der Verträge oder der zulässigen Zahl ihrer Verlängerungen vor noch eine gleichwertige Maßnahme. Daher muss ihre Verlängerung durch einen
„sachlichen Grund“ wie die besondere Art der Aufgaben, ihre Wesensmerkmale oder die Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels
gerechtfertigt sein.
Nach Ansicht des Gerichtshofs kann die vorübergehende Vertretung von Arbeitnehmern aus sozialpolitischen Gründen (Krankheits-, Mutterschafts-, Elternurlaub u. a.) einen sachlichen Grund bilden, der die Befristung des Vertrags rechtfertigt.
Der Gerichtshof führt weiter aus, dass das Recht auf Bildung ein durch die italienische Verfassung garantiertes Grundrecht ist, das den italienischen Staat zwingt, den Schuldienst so einzurichten, dass zwischen der Zahl der Lehrkräfte und der Zahl der Schüler ein stets angemessenes Verhältnis besteht; dieses hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, von denen einige schwer zu kontrollieren oder vorherzusehen sind. Diese Faktoren zeugen von der Notwendigkeit besonderer Flexibilität, die den Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge objektiv rechtfertigen kann.
Wenn ein Mitgliedstaat in den von ihm verwalteten Schulen den Zugang zu Dauerplanstellen denjenigen Mitarbeitern, die ein Auswahlverfahren bestanden haben, durch Einweisung in eine Planstelle vorbehält, kann es auch objektiv gerechtfertigt sein, diese Stellen bis zum Abschluss der Auswahlverfahren mittels aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge zu besetzen.
Der bloße Umstand, dass die nationale Regelung, die gerade die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge ermöglicht, um freie und verfügbare Stellen bis zum Abschluss der Auswahlverfahren durch Jahresvertretungen zu besetzen, möglicherweise durch einen
„sachlichen Grund“ gerechtfertigt ist, genügt jedoch entgegen der Auffassung der italienischen Regierung nicht, um sie mit der Rahmenvereinbarung in Einklang zu bringen, wenn sich zeigt, dass die konkrete Anwendung der Regelung tatsächlich zu einem missbräuchlichen Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge führt. Dies ist der Fall, wenn solche Verträge eingesetzt werden, um einen ständigen und dauerhaften Arbeitskräftebedarf der staatlichen Schulen zu decken.
Im konkreten Fall ist die Zeitspanne bis zur Einweisung der Lehrkräfte in eine Planstelle im Rahmen dieser Regelung variabel und ungewiss, denn ihre Einweisung hängt von zufälligen und unvorhersehbaren Umständen ab. Zum einen richtet sich die durch das Vorrücken der Lehrkräfte auf der Rangliste bewirkte Einweisung in eine Planstelle nämlich nach der Gesamtdauer der befristeten Arbeitsverträge sowie danach, welche Stellen in der Zwischenzeit frei geworden sind. Zum anderen gibt es keine konkrete Frist für die Durchführung der Auswahlverfahren. Folglich kann mit der italienischen Regelung, obwohl sie den Rückgriff auf befristete Arbeitsverträge für Jahresvertretungen bei freien und verfügbaren Stellen formal nur für einen begrenzten Zeitraum zulässt, der mit dem Abschluss von Auswahlverfahren endet, nicht gewährleistet werden, dass die konkrete Anwendung der sachlichen Gründe den Anforderungen der Rahmenvereinbarung entspricht
4.
Im Übrigen stellen Haushaltserwägungen für sich genommen kein sozialpolitisches Ziel dar und können daher nicht das Fehlen von Maßnahmen zur Vermeidung eines missbräuchlichen Rückgriffs auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge rechtfertigen.
Folglich
enthalten die italienischen Rechtsvorschriften keine Maßnahmen zur Vermeidung des missbräuchlichen Rückgriffs auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge.
Die Sanktionsmaßnahmen
Die italienischen Rechtsvorschriften schließen Ansprüche auf Ersatz des Schadens aus, der durch den missbräuchlichen Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge im Sektor des Unterrichtswesens entstanden ist. Sie lassen auch keine Umwandlung dieser Verträge in unbefristete Verträge zu.
Die für einen Arbeitnehmer, der Vertretungen wahrgenommen hat, einzige Möglichkeit, in den Genuss eines unbefristeten Vertrags zu kommen – seine Einweisung in eine Planstelle infolge des Vorrückens auf der Rangliste –, hängt von Zufällen ab und kann daher nicht als Sanktion angesehen werden, die hinreichend wirksam und abschreckend ist, um die volle Wirksamkeit der zur Durchführung der Rahmenvereinbarung erlassenen Vorschriften zu gewährleisten.
Auch wenn der Sektor des Unterrichtswesens durch die Notwendigkeit besonderer Flexibilität gekennzeichnet ist, enthebt dies den italienischen Staat nicht der Erfüllung der Verpflichtung, angemessene Maßnahmen vorzusehen, um den missbräuchlichen Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge gebührend zu ahnden.
Aus diesen Gründen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass
die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge einer Regelung entgegensteht, die bis zum Abschluss von Auswahlverfahren zur Einstellung von planmäßigem Personal der staatlichen Schulen
die Verlängerung befristeter Verträge zur Besetzung freier und verfügbarer Planstellen für Lehrkräfte sowie Verwaltungs-, technisches und Hilfspersonal zulässt, ohne einen genauen Zeitplan für den Abschluss dieser Auswahlverfahren anzugeben und unter Ausschluss jeder Ersatzmöglichkeit für den durch eine solche Verlängerung entstandenen Schaden.
Dieser Regelung lassen sich nämlich keine objektiven und transparenten Kriterien für die Prüfung entnehmen, ob die Verlängerung tatsächlich einem echten Bedarf entspricht und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist. Sie enthält auch keine andere Maßnahme zur Vermeidung und Ahndung eines missbräuchlichen Rückgriffs auf derartige Verträge.
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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1Rahmenvereinbarung vom 18. März 1999 im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. L 175, S. 43).
2Urteile des Gerichtshofs vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a. (Rechtssache C-212/04, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 54/06), vom 23. April 2009, Angelidaki u. a. (Rechtssachen C-378/07 bis C-380/07), und vom 11. April 2013, Della Rocca (Rechtssache C-290/12).
3Dagegen stellt die Rahmenvereinbarung keine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf, die Umwandlung befristeter in unbefristete Arbeitsverträge vorzusehen (Urteil des Gerichtshofs vom 3. Juli 2014, Fiamingo u. a., Rechtssache C-362/13, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 92/14).
4Je nach den Bezugsjahren und Quellen sollen etwa 30 % oder sogar 61 % des Verwaltungs-, des technischen und des Hilfspersonals staatlicher Schulen im Rahmen befristeter Arbeitsverträge beschäftigt worden sein. Zwischen 2006 und 2011 sollen die aufgrund solcher Verträge tätigen Lehrkräfte dieser Schulen 13 % bis 18 % aller ihrer Lehrkräfte ausgemacht haben. In den Jahren 2000 bis 2011 wurden keine Auswahlverfahren durchgeführt.