Die Familienangehörigen eines langfristig Aufenthaltsberechtigten können von dieser Voraussetzung nicht befreit werden
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Mit der Schaffung einer einheitlichen Rechtsstellung für die langfristig Aufenthaltsberechtigten, die die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats (d. h. eines Staates außerhalb der Union) besitzen, bezweckt das Unionsrecht
1 eine Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten erteilen die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, die sich vor der Stellung des Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben.
Am 28. Februar 2012 stellte Frau Tahir, eine pakistanische Staatsbürgerin, bei der Questura di Verona (Quästur Verona, Italien) einen Antrag auf Ausstellung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU als Ehegattin des Herrn Tahir, der ebenfalls pakistanischer Staatsangehöriger ist und eine solche Aufenthaltsberechtigung bereits besaß. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Frau Tahir nicht seit mindestens fünf Jahren im Besitz einer gültigen Aufenthaltsberechtigung sei. Frau Tahir hielt sich nämlich erst seit dem 15. März 2010 aufgrund eines Einreisevisums zur Familienzusammenführung mit ihrem Ehegatten in Italien auf.
Frau Tahir focht diese ablehnende Entscheidung beim Tribunale di Verona (Landesgericht Verona, Italien) an. Ihrer Ansicht nach gestattet die Richtlinie über die langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen den Mitgliedstaaten, günstigere als die von der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen anzuwenden. Somit brauchten die Familienangehörigen eines langfristig Aufenthaltsberechtigten aufgrund der günstigeren Maßnahmen des italienischen Rechts die Voraussetzung des fünfjährigen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts selbst nicht zu erfüllen.
Das italienische Gericht führt aus, dass die Ausstellung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung für die Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen, der eine solche Berechtigung bereits erhalten habe, zwar von bestimmten Voraussetzungen (wie etwa einem ausreichenden Einkommen und einer geeigneten Wohnung) abhänge, dass aber in Italien die Voraussetzung des fünfjährigen Aufenthalts nur diesen Drittstaatsangehörigen und nicht seine Familienangehörigen betreffe.
Es möchte daher wissen, ob der Familienangehörige eines langfristig Aufenthaltsberechtigten von der Voraussetzung des fünfjährigen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts in dem betroffenen Mitgliedstaat befreit werden kann.
Drittstaatsangehörigen vorbehalten, die sich vor der Stellung des Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, und dass diese Rechtsstellung von dem Nachweis abhängt, dass der Antragsteller über ausreichende Einkünfte und eine Krankenversicherung verfügt
2.
Hingegen
lässt nichts im Wortlaut der Richtlinie die Annahme zu, dass ein Familienangehöriger eines langfristig Aufenthaltsberechtigten von der Voraussetzung des fünfjährigen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts befreit werden könnte, um in den Genuss der von dieser Richtlinie vorgesehenen Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu kommen.
Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass das vorrangige Ziel der Richtlinie die Integration von Drittstaatsangehörigen ist, die in einem Mitgliedstaat langfristig ansässig sind, und dass der fünfjährige ununterbrochene rechtmäßige Aufenthalt die Verwurzelung der betreffenden Person in diesem Staat belegt.
Daher befindet er, dass sich Drittstaatsangehörige während der letzten fünf Jahre vor Stellung ihres Antrags persönlich ununterbrochen rechtmäßig im Empfangsmitgliedstaat aufgehalten haben müssen, um die unionsrechtlich geregelte Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangen zu können.
Der Gerichtshof weist im Übrigen darauf hin, dass die Harmonisierung der Bedingungen für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten fördert. Daher verleiht eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU ihrem
Inhaber grundsätzlich das Recht, sich länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, aufzuhalten.
Der Gerichtshof führt aus, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten auch gestattet, dauerhafte oder unbefristete Aufenthaltstitel unter günstigeren Voraussetzungen als denjenigen der Richtlinie auszustellen. Er betont jedoch, dass es sich nach dem Wortlaut der Richtlinie bei den unter günstigeren Bedingungen ausgestellten Aufenthaltstiteln nicht um langfristige Aufenthaltsberechtigungen – EU im Sinne der Richtlinie handelt und sie nicht das Recht auf Aufenthalt in den anderen Mitgliedstaaten begründen.
In Beantwortung der zweiten Frage stellt der Gerichtshof fest, dass das Unionsrecht einem Mitgliedstaat nicht gestattet, einem Familienangehörigen eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU unter günstigeren Voraussetzungen als denen der Richtlinie auszustellen.
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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichthof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1 Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44).
2Vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 24. April 2012, Kamberaj (Rechtssache C-571/10 ; vgl. auch PM Nr. 48/12).