Die gerichtliche Prüfung einer Haftverlängerung muss es dem zuständigen Gericht ermöglichen, die Entscheidung der Behörde, die ursprünglich die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen angeordnet hatte, durch seine eigene Entscheidung
Außerdem muss jede Haftverlängerung durch eine schriftliche Maßnahme angeordnet werden, in der ihre rechtlichen und tatsächlichen Gründe angegeben sind und die der Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Gerichte unterliegt
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Am 9. August 2013 wurde ein sudanesischer Staatsangehöriger, Herr Bashir Mohamed Ali Mahdi, ohne gültiges Identitätsdokument in Bulgarien festgenommen. Herr Mahdi wurde bis zur Durchführung der gegen ihn erlassenen Verwaltungszwangsmaßnahmen der Abschiebung in einer Einrichtung für Verwaltungshaft untergebracht. Am 12. August 2013 unterzeichnete er eine Erklärung, wonach er freiwillig in den Sudan zurückkehren wolle.
Diese Erklärung nahm Herr Mahdi später zurück. Die sudanesische Botschaft bestätigte die Identität von Herrn Mahdi, lehnte es aber ab, ihm ein Reisedokument auszustellen, weil Herr Mahdi nicht in den Sudan zurückkehren wolle. Am Ende des ersten Haftzeitraums riefen die bulgarischen Behörden ein bulgarisches Verwaltungsgericht an, um eine Haftverlängerung zu erwirken. Sie beriefen sich insbesondere auf Fluchtgefahr und mangelnde Kooperation des Betroffenen.
Das bulgarische Gericht hat daraufhin dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Die ersten beiden Fragen, die verfahrensrechtlicher Natur sind, gehen dahin, (1) ob die zuständige Verwaltungsbehörde, wenn sie die Situation des Betroffenen am Ende des ersten Haftzeitraums prüft, eine schriftliche Maßnahme erlassen muss, in der ihre rechtlichen und tatsächlichen Gründe angegeben sind, und (2) ob es die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme erfordert, dass das zuständige Gericht den Fall in der Sache entscheiden kann.
Zur ersten Frage weist der Gerichtshof darauf hin, dass im Rahmen der Richtlinie über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger
1 das einzige Erfordernis bezüglich des Erlasses einer schriftlichen Maßnahme darin besteht, dass die Inhaftnahme schriftlich unter Angabe der tatsächlichen und rechtlichen Gründe angeordnet wird. Dieses Erfordernis ist so zu verstehen, dass es sich auch auf Haftverlängerungsentscheidungen bezieht, da die Inhaftnahme und die Haftverlängerung vergleichbar sind und der betroffene Staatsangehörige in der Lage sein muss, die Gründe für die ihm gegenüber getroffene Entscheidung zu erfahren. Sollten die bulgarischen Behörden vor der Anrufung des Verwaltungsgerichts über die Fortdauer der Haft entschieden haben, war mithin eine schriftliche und mit rechtlichen und tatsächlichen Gründen versehene Maßnahme erforderlich. Sollten die bulgarischen Behörden dagegen nur erneut die Situation von Herrn Mahdi geprüft haben, ohne über den Verlängerungsantrag zu entscheiden (dies festzustellen ist Sache des vorlegenden Gerichts), waren sie nicht verpflichtet, eine ausdrückliche Maßnahme zu erlassen, da die Richtlinie keine entsprechenden Bestimmungen enthält.
Zur zweiten Frage führt der Gerichtshof aus, dass ein Gericht, das über einen Antrag auf Verlängerung der ursprünglich angeordneten Haft entscheidet, zwingend in der Lage sein muss, über alle relevanten tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu befinden, um festzustellen, ob die Verlängerung gerechtfertigt ist. Dies macht eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falles erforderlich. Das Gericht muss die Entscheidung, mit der ursprünglich die Inhaftnahme angeordnet wurde, durch seine eigene Entscheidung ersetzen und entweder die Haftverlängerung anordnen oder eine weniger intensive Maßnahme oder aber die Freilassung des Drittstaatsangehörigen anordnen können, wenn dies gerechtfertigt ist. Das Gericht muss bei einer solchen Entscheidung alle relevanten Umstände berücksichtigen. Die Befugnisse des Gerichts im Rahmen einer solchen Kontrolle können folglich keinesfalls auf die Umstände beschränkt werden, die die Verwaltungsbehörde vorgetragen hat.
Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof außerdem, ob ein erster Haftzeitraum bereits deswegen verlängert werden darf, weil der Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt und deshalb Fluchtgefahr besteht. Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Fluchtgefahr ein Umstand ist, der im Rahmen der ersten Inhaftnahme zu berücksichtigen ist. Dagegen befindet sich die Fluchtgefahr nicht unter den beiden in der Richtlinie genannten Voraussetzungen für eine Haftverlängerung. Die Fluchtgefahr ist deshalb nur insoweit relevant, als es um die erneute Prüfung der Umstände geht, die ursprünglich zur Inhaftnahme geführt hatten. Das macht es erforderlich, die tatsächlichen Umstände im Zusammenhang mit der Situation von Herrn Mahdi zu beurteilen, damit geprüft werden kann, ob ihm gegenüber wirksam eine weniger intensive Zwangsmaßnahme angewandt werden kann. Nur bei Fortbestehen der Fluchtgefahr kann berücksichtigt werden, dass keine Identitätsdokumente vorhanden sind. Ein solches Nichtvorhandensein von Dokumenten kann somit für sich allein keine Haftverlängerung rechtfertigen.
Das vorlegende Gericht möchte weiter wissen, ob die Weigerung der sudanesischen Botschaft, Herrn Mahdi Identitätsdokumente auszustellen, dem Betroffenen zugerechnet werden kann und ob, falls dies der Fall ist, das Verhalten von Herrn Mahdi als mangelnde Kooperationsbereitschaft angesehen werden kann, was eine Haftverlängerung rechtfertigen würde. Der Gerichtshof antwortet, dass bei Herrn Mahdi nur dann von einer
„mangelnden Kooperationsbereitschaft“ im Sinne der Richtlinie ausgegangen werden kann, wenn eine Prüfung seines Verhaltens ergibt, dass er bei der Durchführung der Abschiebung nicht kooperiert hat und diese wegen des betreffenden Verhaltens vermutlich länger dauern wird als vorgesehen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.
Schließlich antwortet der Gerichtshof auf die letzte Frage des vorlegenden Gerichts, dass
Bulgarien Herrn Mahdi im Fall seiner Freilassung zwar keinen eigenständigen Aufenthaltstitel bzw. ein Aufenthaltsrecht verleihen muss, ihm aber – wie in der Richtlinie vorgesehen – eine schriftliche Bestätigung seiner Situation ausstellen muss.
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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).