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Pressemitteilung
C-423/12;
Verkündet am: 
 16.01.2014
EuGH Europäischer Gerichtshof
 

Rechtskräftig: unbekannt!
Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-423/12
Leitsatz des Gerichts:
Ein Mitgliedstaat darf für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht verlangen, dass der Verwandte in absteigender Linie nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden oder in seinem Herkunftsland Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen
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Das Unionsrecht1 erstreckt das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, auch auf ihre Familienangehörigen, unabhängig von deren Nationalität. Als Familienangehörige gelten u. a. die Verwandten in gerader absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von dem Unionsbürger Unterhalt gewährt wird.

Frau Flora May Reyes ist 1987 geboren und besitzt die philippinische Staatsangehörigkeit. Im Alter von drei Jahren wurde sie in die Obhut ihrer Großmutter mütterlicherseits gegeben, weil ihre Mutter nach Deutschland zog, um dort zu arbeiten. Die Mutter von Frau Reyes erlangte die deutsche Staatsangehörigkeit. Während ihrer gesamten Kindheit und Jugend wurde Frau Reyes von ihrer Großmutter mütterlicherseits aufgezogen. Zwischen ihrem 17. und ihrem 23. Lebensjahr besuchte sie zwei Jahre lang eine Oberschule und studierte anschließend vier Jahre lang. Nach einer mehrere Praktika umfassenden Ausbildung erhielt sie das Diplom zur Hilfskrankenschwester/Pflegeassistentin. Im Anschluss an ihr Examen half Frau Reyes ihrer Schwester bei der Betreuung von deren Kindern. Die Mutter von Frau Reyes hielt während der gesamten Zeit engen Kontakt zu ihren Familienangehörigen auf den Philippinen, schickte ihnen jeden Monat Geld für ihren Unterhalt und für ihr Studium und besuchte sie jedes Jahr. Frau Reyes hat noch nie eine Beschäftigung ausgeübt und hat auch keine Sozialleistungen bei den philippinischen Behörden beantragt.

Im Jahr 2009 zog die Mutter von Frau Reyes nach Schweden zu einem norwegischen Staatsangehörigen, den sie 2011 heiratete. Seit 2009 schickte dieser norwegische Staatsangehörige, der über Mittel aus einer Altersrente verfügt, regelmäßig Geld auf die Philippinen für Frau Reyes und die anderen Familienangehörigen seiner Ehefrau.

2011 reiste Frau Reyes in den Schengen-Raum ein. Sie beantragte in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige ihrer Mutter einen Aufenthaltstitel in Schweden. Dabei gab sie an, dass ihr von der Familie ihrer Mutter Unterhalt gewährt werde. Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sie nicht nachgewiesen habe, dass das ihr von ihrer Familie unstreitig überwiesene Geld der Deckung ihrer Grundbedürfnisse in Form von Kost und Unterbringung sowie dem Zugang zur Krankheitsfürsorge auf den Philippinen gedient habe. Weiter habe sie nicht dargetan, in welcher Art und Weise die Systeme der Sozialversicherung und der sozialen Sicherheit in ihrem Heimatland Personen in ihrer Lage versorgen könnten. Dagegen habe sie nachgewiesen, dass sie in ihrem Herkunftsland ein Diplom gemacht und Praktika absolviert habe. Außerdem sei ihr während ihrer Kindheit und Jugend von ihrer Großmutter mütterlicherseits Unterhalt gewährt worden.

Das Kammarrätt i Stockholm – Migrationsöverdomstol (Berufungsverwaltungsgericht Stockholm –Berufungsgericht für Einwanderungsfragen), bei dem die Rechtssache nun anhängig ist, möchte vom Gerichtshof wissen, ob ein Mitgliedstaat verlangen darf, dass ein Verwandter in gerader absteigender Linie, der 21 Jahre oder älter ist – um als Person, der Unterhalt gewährt wird, und somit als von der Definition des „Familienangehörigen“ erfasst angesehen zu werden – nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob sich die Tatsache, dass ein Familienangehöriger gute Voraussetzungen dafür mitbringt, eine Arbeit zu finden, und dass er beabsichtigt, im Aufnahmemitgliedstaat einer Arbeit nachzugehen, auf die Auslegung des Erfordernisses, dass ihm „Unterhalt gewährt wird“, auswirkt.

In seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses nachgewiesen werden muss, damit ein 21 Jahre alter oder älterer Verwandter in gerader absteigender Linie eines Unionsbürgers als Person angesehen werden kann, der von dem Unionsbürger „Unterhalt gewährt wird“. Um zu ermitteln, ob eine solche Abhängigkeit vorliegt, muss der Aufnahmemitgliedstaat prüfen, ob der fragliche Verwandte in absteigender Linie in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt. Der Unterhaltsbedarf muss im Herkunfts- oder Heimatland eines solchen Verwandten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem er beantragt, dem Unionsbürger nachzuziehen. Dagegen ist es nicht erforderlich, die Gründe für diese Abhängigkeit und damit für die Inanspruchnahme dieser Unterstützung zu ermitteln.

Die Tatsache, dass ein Unionsbürger dem Verwandten in absteigender Linie regelmäßig während eines beachtlichen Zeitraums einen Geldbetrag zahlt, den Letzterer zur Deckung seiner Grundbedürfnisse im Herkunftsland benötigt, ist geeignet, ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Verwandten in absteigender Linie und dem Unionsbürger nachzuweisen. Es kann von dem Verwandten in absteigender Linie nicht verlangt werden, dass er darüber hinaus nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Durch das Erfordernis eines solchen zusätzlichen Nachweises, der in der Praxis nicht einfach zu erbringen ist, kann die Möglichkeit des Verwandten in absteigender Linie, von seinem Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat Gebrauch zu machen, übermäßig erschwert werden. Im Übrigen ist nicht ausgeschlossen, dass eine solche Voraussetzung dazu führt, dass Schritte unternommen werden müssen – beispielsweise der Versuch, verschiedene Bescheinigungen darüber zu bekommen, dass keine Arbeit gefunden wurde und keine Sozialleistungen bezogen wurden –, die aufwändiger sind als der, sich von der zuständigen Behörde des Herkunfts- oder Heimatlands ein Dokument ausstellen zu lassen, mit dem das Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses bestätigt wird. Dazu hat der Gerichtshof jedoch bereits entschieden, dass dieser Schritt keine Voraussetzung für die Ausstellung des Aufenthaltstitels sein kann.

Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass ein Mitgliedstaat nach dem Unionsrecht nicht verlangen darf, dass ein Verwandter in gerader absteigender Linie, der 21 Jahre oder älter ist – um als Person, der Unterhalt gewährt wird, und somit als von der Definition des „Familienangehörigen“ eines Unionsbürgers erfasst angesehen zu werden – nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass das Abhängigkeitsverhältnis zu dem Zeitpunkt, zu dem der betreffende Familienangehörige den Nachzug zu dem Unionsbürger beantragt, der ihm Unterhalt gewährt, im Herkunftsland dieses Familienangehörigen bestehen muss. Die Tatsache, dass ein Familienangehöriger aufgrund persönlicher Umstände wie Alter, Ausbildung und Gesundheit gute Voraussetzungen dafür mitbringt, eine Arbeit zu finden, und dass er darüber hinaus beabsichtigt, im Aufnahmemitgliedstaat einer Arbeit nachzugehen, wirkt sich nicht auf die Auslegung des Erfordernisses, dass ihm „Unterhalt gewährt wird“, aus.

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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, mit Berichtigung in ABl. 2004, L 229, S. 35).
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