Das später angerufene Gericht hat sich von diesem Zeitpunkt an zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären
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Das Unionsrecht
1 sieht vor, dass, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden, sich das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig erklärt, sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
Im Jahr 2007 beauftragte Cartier die Gesellschaft Ziegler France mit dem Straßentransport von Kosmetikprodukten von Frankreich in das Vereinigte Königreich. Dieser Transport wurde von einer anderen Gesellschaft durchgeführt, die das letzte Glied in einer ganzen Kette von Unteraufträgen war. Während dieses Transports wurde ein Teil der Ware auf britischem Hoheitsgebiet gestohlen. Dadurch entstand ein Schaden in Höhe von etwa 145 000 Euro.
Am 16. September 2008 rief Ziegler zur Prüfung der Haftung und zur Bezifferung des etwaigen durch den fraglichen Diebstahl verursachten Schadens ein englisches Gericht an. Eine Woche später, am 24. September 2008, erhoben Cartier und Axa assurances bei einem französischen Gericht Klage gegen Ziegler und deren Unterauftragnehmer als Gesamtschuldner. Ziegler ist der Auffassung, dass sich das später angerufene französische Gericht zugunsten des zuerst angerufenen englischen Gerichts für unzuständig erklären müsse, da dessen Zuständigkeit von den Parteien nicht gerügt worden sei und daher im Sinne des Unionsrechts feststehe. Cartier und Axa assurances sind der Ansicht, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts erst feststehe, wenn es seine Zuständigkeit durch eine rechtskräftig gewordene Entscheidung stillschweigend oder ausdrücklich anerkannt habe. Die Cour de cassation (Frankreich) hat sich mit der Frage an den Gerichtshof gewandt, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
Im Urteil vom heutigen Tag stellt
der Gerichtshof fest, dass nach dem Unionsrecht die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts (sofern nicht eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts besteht) feststeht, wenn sich das zuerst angerufene Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und keine der Parteien seine Zuständigkeit vor oder mit dem ersten Verteidigungsvorbringen zur Sache gerügt hat. Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof darauf hin, dass sich das englische Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und Cartier sich vor ihm auf das Verfahren eingelassen hat, ohne seine Zuständigkeit zu rügen.
Im Übrigen würde, wenn man verlangte, dass das zuerst angerufene Gericht seine Zuständigkeit durch eine rechtskräftig gewordene Entscheidung stillschweigend oder ausdrücklich anerkannt hat, den Regeln des Unionsrechts über die Rechtshängigkeit jede Wirksamkeit genommen und die Gefahr von Parallelverfahren erhöht, was durch das Unionsrecht gerade vermieden werden soll.Schließlich hebt der Gerichtshof hervor, dass seine Auslegung im vorliegenden Fall nicht die Gefahr eines negativen Zuständigkeitskonflikts begründet (bei dem die Parteien gezwungen sind, einen neuen Prozess zu führen, wenn sich das zuerst angerufene Gericht später für unzuständig erklärt), da die Zuständigkeit des englischen Gerichts nicht mehr in Frage gestellt werden kann.
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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).