Die den Gerichten eines Mitgliedstaats durch die Brüssel-I-Verordnung zuerkannte ausschließliche Zuständigkeit für unbewegliche Sachen wird nicht dadurch berührt, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuerst befasst wurde
Das ausschließlich zuständige Gericht darf weder das Verfahren aussetzen noch sich für unzuständig erklären, sondern muss in der Sache über die bei ihm erhobene Klage entscheiden
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Mit seinem heutigen Urteil beantwortet
der Gerichtshof Fragen des Oberlandesgerichts München (Deutschland) nach der Auslegung der Brüssel-I-Verordnung1 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Das Oberlandesgericht ist mit einem Rechtsstreit zwischen zwei Miteigentümerinnen eines Grundstücks in München befasst. In diesem Rechtsstreit verlangt die eine Miteigentümerin, nachdem sie ihr im Grundbuch eingetragenes Vorkaufsrecht am Miteigentumsanteil der anderen Miteigentümerin ausgeübt hat, Letztere zu verurteilen, die Eintragung der Eigentumsübertragung im Grundbuch zu bewilligen. Unter diesen Umständen möchte das Oberlandesgericht vom Gerichtshof wissen, ob es das Verfahren aussetzen und sich gegebenenfalls für unzuständig erklären muss, weil beim Tribunale ordinario di Milano (Zivilgericht Mailand, Italien) bereits ein Rechtsstreit über das Vorkaufsrecht anhängig ist. Der Käufer, an den die andere Miteigentümerin ihren Miteigentumsanteil verkaufen wollte, hat nämlich die beiden Miteigentümerinnen vor dem italienischen Gericht verklagt, um die Ungültigkeit der Ausübung des Vorkaufsrechts und die Gültigkeit des Vertrags über den fraglichen Miteigentumsanteil feststellen zu lassen.
Die Brüssel-I-Verordnung sieht eine ausschließliche Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten über dingliche Rechte
2 an unbeweglichen Sachen vor. Für solche Rechtsstreitigkeiten sind die Gerichte des Mitgliedstaats ausschließlich zuständig, in dem die unbewegliche Sache belegen ist. Das Gericht des Belegenheitsstaats ist nämlich wegen der räumlichen Nähe am besten in der Lage, sich eine gute Kenntnis des Sachverhalts zu verschaffen und die einschlägigen Regeln und Gebräuche anzuwenden, die im Allgemeinen die des Belegenheitsstaats sind.
Der Gerichtshof stellt klar, dass diese ausschließliche Zuständigkeit für dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen auch für Klagen gilt, die auf Feststellung der Ungültigkeit der Ausübung eines an einem Grundstück bestehenden und gegenüber jedermann wirkenden Vorkaufsrechts gerichtet sind. Eine Klage, mit der im Wesentlichen festgestellt werden soll, ob die Ausübung des Vorkaufsrechts dem Berechtigten den Anspruch auf Übertragung des streitbefangenen Grundstücks hat sichern können, betrifft nämlich ein dingliches Recht an einer unbeweglichen Sache. Daher fällt sie unter die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Belegenheitsstaats.
Die Brüssel-I-Verordnung sieht außerdem vor, dass bei Rechtshängigkeit – wenn also bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden – das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aussetzen muss, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht
3. Sobald dies der Fall ist, muss sich das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen für unzuständig erklären. Grundsätzlich darf das später angerufene Gericht nicht selbst die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts prüfen.
Das Oberlandesgericht möchte wissen, ob dies auch gilt, wenn die Brüssel-I-Verordnung selbst
4 dem später angerufenen Gericht eine ausschließliche Zuständigkeit zuweist.
Der Gerichtshof entscheidet, dass das später angerufene Gericht, wenn es als Gericht des Belegenheitsstaats ausschließlich zuständig ist, weder das Verfahren aussetzen noch sich für unzuständig erklären darf, sondern in der Sache über die bei ihm erhobene Klage entscheiden muss. Denn eine Entscheidung,
die das zuerst angerufene Gericht unter Verletzung der ausschließlichen Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts erlässt, kann nach der Verordnung im Mitgliedstaat des später angerufenen Gerichts nicht anerkannt werden. Es entspräche nicht dem Gebot einer geordneten Rechtspflege, wenn in einem solchen Fall die Regel der Rechtshängigkeit angewandt würde.
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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
2Ein dingliches Recht an einer Sache wirkt gegenüber jedermann, während ein persönlicher Anspruch nur gegen den Schuldner geltend gemacht werden kann.
3Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich das zuerst angerufene Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt hat und keine der Parteien die mangelnde Zuständigkeit gerügt hat, vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 27. Februar 2014, Cartier parfums-lunettes und Axa Corporate Solutions Assurance (Rechtssache C-1/13; vgl. auch PM Nr. 27/14).
4Nicht erfasst ist der Fall einer ausschließlichen Zuständigkeit aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung.