Der Gerichtshof weist die Klagen der Kommission gegen die Entscheidungen des Rates über die Gewährung von staatlichen Beihilfen für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen zwischen 2010 und 2013 durch Litauen, Polen, Lettland und Ungarn ab
Beim Erlass der angefochtenen Entscheidungen hatte der Rat die erhebliche Änderung der Umstände im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf den Agrarsektor in diesen Ländern in den Jahren 2008 und 2009 berücksichtigt
Zum Urteilstext (Englisch!)
Zur englischen Version der Presserklärung
Das Unionsrecht sieht vor, dass die Europäische Kommission fortlaufend mit den Mitgliedstaaten die in diesen Staaten bestehenden Regelungen in Bezug auf staatliche Beihilfen überprüft. Sie schlägt ihnen die zweckdienlichen Maßnahmen vor, die die fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Binnenmarkts erfordern.
Gelangt die Kommission aufgrund der von dem betreffenden Mitgliedstaat übermittelten Auskünfte zu dem Schluss, dass eine bestehende Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt nicht oder nicht mehr vereinbar ist, so schlägt sie ihm zweckdienliche Maßnahmen vor. Ein Mitgliedstaat, der den vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmt, ist verpflichtet, sie durchzuführen.
Außerdem kann der Rat der Europäischen Union auf Antrag eines Mitgliedstaats einstimmig beschließen, dass eine von diesem Staat gewährte oder geplante Beihilfe als mit dem Binnenmarkt vereinbar gilt, wenn außergewöhnliche Umstände eine solche Entscheidung rechtfertigen.
In der Agrarrahmenregelung der Gemeinschaft
1 schlug die Kommission den Mitgliedstaaten vor, die bestehenden Beihilferegelungen für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen anzupassen, damit sie bis spätestens 31. Dezember 2009 mit dieser Rahmenregelung übereinstimmen. Im Jahr 2007 stimmten Litauen, Polen, Lettland und Ungarn diesen zweckdienlichen Maßnahmen zu.
Diese vier Mitgliedstaaten beantragten im Jahr 2009 beim Rat der Europäischen Union, dass Beihilferegelungen
2 für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen bis zum 31. Dezember 2013 für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden. Der Rat gab diesen Anträgen statt.
3
Mit ihren Klagen beantragt die Kommission die Nichtigerklärung der entsprechenden Entscheidungen des Rates.
Mit den Urteilen vom heutigen Tag weist der Gerichtshof diese Klagen ab.
Der Gerichtshof prüft zunächst den von der Kommission vorgetragenen Klagegrund der
fehlenden Zuständigkeit des Rates für die Genehmigung von Beihilfen, zu deren Abschaffung sich die Mitgliedstaaten durch die Zustimmung zu den von der Kommission vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen verpflichtet hätten. Der Gerichtshof weist auf die zentrale Rolle hin, die der Vertrag der Kommission bei der Feststellung der etwaigen Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt verleiht. Sodann prüft er, ob die vom Rat für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärten Beihilfen als Beihilfen anzusehen sind, über die die Kommission bereits endgültig entschieden hat. Dazu führt er aus, dass die von der Kommission in der Agrarrahmenregelung vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen nur solche Beihilferegelungen betreffen, die schon bestanden. In den vorliegenden Fällen sind die mit den Entscheidungen des Rates genehmigten Regelungen indessen neue Beihilferegelungen.
Der Rat ist allerdings nicht befugt, eine neue Beihilferegelung zu genehmigen, die untrennbar mit einer bestehenden Beihilferegelung, zu deren Änderung oder Abschaffung sich ein Mitgliedstaat durch die Zustimmung zu zweckdienlichen Maßnahmen verpflichtet hat, verbunden ist.
In diesem Zusammenhang hebt der Gerichtshof hervor, dass der Rat nur dann befugt ist, eine neue Beihilferegelung zu genehmigen, die einer bestehenden Beihilferegelung gleicht, die ein Mitgliedstaat wegen der Zustimmung zu den Vorschlägen für zweckdienliche Maßnahmen ändern oder abschaffen musste, wenn nach diesen Vorschlägen neue und außergewöhnliche Umstände eingetreten sind.
Aufgrund der erheblichen Änderung der Umstände im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf den Agrarsektor greift somit im vorliegenden Fall die von der Kommission vorgenommene Beurteilung der bestehenden Beihilferegelungen der Beurteilung einer Beihilferegelung nicht vor, die ähnliche Maßnahmen umfasst, aber in einem wirtschaftlich gänzlich anderen Zusammenhang angewandt werden sollte, als er von der Kommission in ihrer Beurteilung berücksichtigt wurde.
Der Gerichtshof prüft sodann das Vorbringen der Kommission, der Rat habe sein
Ermessen missbraucht, indem er versucht habe, die Folgen der Beurteilung zu neutralisieren, die sie in Bezug auf die von den vier Mitgliedstaaten eingeführten Beihilferegelungen für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen vorgenommen habe. Der Gerichtshof stellt fest, dass nichts in den ihm vorgelegten Akten die Feststellung erlaubt, dass der Rat ausschließlich oder zumindest hauptsächlich ein anderes Ziel als das verfolgt hat, litauischen, polnischen, lettischen und ungarischen Landwirten dabei zu helfen, landwirtschaftliche Flächen leichter zu erwerben.
In ihren Klageschriften trägt die Kommission weiter vor, die angefochtenen Entscheidungen seien unter
Verletzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen erlassen worden. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die betreffenden Mitgliedstaaten keine konkrete Verpflichtung hinsichtlich der mit den angefochtenen Entscheidungen genehmigten Beihilferegelungen eingegangen sind. Daher haben diese Entscheidungen Litauen, Polen, Lettland und Ungarn nicht von einer besonderen Pflicht zur Zusammenarbeit entbunden, da mit ihnen die Ergebnisse des zuvor zwischen der Kommission und diesen Mitgliedstaaten geführten Dialogs keineswegs unterlaufen worden sind.
Zudem weist der Gerichtshof das Vorbringen der Kommission, der Rat habe insofern einen
offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als er befunden habe, dass außergewöhnliche Umstände vorgelegen hätten, die die genehmigten Maßnahmen rechtfertigten, als unbegründet zurück. Angesichts des ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Charakters sowie des Ausmaßes der Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Landwirtschaft der betreffenden Mitgliedstaaten hat der Rat nämlich keinen solchen Fehler begangen.
Die Kommission ist schließlich der Ansicht, dass
der Rat durch den Erlass der angefochtenen Entscheidungen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet habe. Der Gerichtshof ist hingegen der Auffassung, dass die Genehmigung der in Rede stehenden Beihilferegelungen – mit denen die strukturellen Probleme und ihre Verschärfung durch die Wirtschafts- und Finanzkrise mit verschiedenen Maßnahmen ausgeglichen werden sollen – zur Verwirklichung des mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidungen verfolgten Ziels nicht offensichtlich ungeeignet ist. Im Übrigen hat der Rat angesichts der für die Entwicklung der Struktur der Landwirtschaftsbetriebe (in Polen und Lettland), den Abschluss der Landreform (in Litauen) und den Abschluss des Flächenprivatisierungsprozesses (in Ungarn) erforderlichen Zeit und der Dauer der Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise keine offensichtlich unverhältnismäßige Maßnahme gewählt, als er die fragliche Beihilferegelung für den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2013 genehmigt hat.
------------------
HINWEIS: Eine Nichtigkeitsklage dient dazu, unionsrechtswidrige Handlungen der Unionsorgane für nichtig erklären zu lassen. Sie kann unter bestimmten Voraussetzungen von Mitgliedstaaten, Organen der Union oder Einzelnen beim Gerichtshof oder beim Gericht erhoben werden. Ist die Klage begründet, wird die Handlung für nichtig erklärt. Das betreffende Organ hat eine durch die Nichtigerklärung der Handlung etwa entstehende Regelungslücke zu schließen.
-------------------
1Rahmenregelung der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen im Agrar- und Forstsektor 2007-2013 (ABl. 2006, C 319, S. 1).
2In Höhe von bis zu 55 Mio. litauischer Litas (LTL), 400 Mio. polnischer Złoty (PLN), 8 Mio. lettischer Lats (LVL) bzw. 4 000 Mio. ungarischer Forint (HUF).
3Beschluss 2009/983/EU des Rates vom 16. Dezember 2009 über die Gewährung einer staatlichen Beihilfe durch die Behörden der Republik Litauen für den Erwerb staatlicher landwirtschaftlicher Flächen zwischen dem 1. Januar 2010 und dem 31. Dezember 2013 (ABl. L 338, S. 93), Entscheidung 2010/10/EG des Rates vom 20. November 2009 über die Gewährung einer staatlichen Beihilfe durch die Behörden der Republik Polen für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen zwischen dem 1. Januar 2010 und dem 31. Dezember 2013 (ABl. 2010, L 4, S. 89), Beschluss 2009/991/EU des Rates vom 16. Dezember 2009 über die Gewährung einer staatlichen Beihilfe durch die Behörden der Republik Lettland für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen zwischen dem 1. Januar 2010 und dem 31. Dezember 2013 (ABl. L 339, S. 34), Beschluss 2009/1017/EU des Rates vom 22. Dezember 2009 über die Gewährung einer staatlichen Beihilfe durch die Behörden der Republik Ungarn für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen zwischen dem 1. Januar 2010 und dem 31. Dezember 2013 (ABl. L 348, S. 55).