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Pressemitteilung
C-221/11;
Verkündet am: 
 26.09.2013
EuGH Europäischer Gerichtshof
 

Rechtskräftig: unbekannt!
Türkische Staatsangehörige sind nicht berechtigt, ohne Visum in das Gebiet eines Mitgliedstaats der EU einzureisen, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen
Leitsatz des Gerichts:
Das Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, nach seinem Inkrafttreten eine Visumpflicht in Bezug auf die Inanspruchnahme von Dienstleistungen einzuführen
Zum Urteilstext (Englisch!)
Zur englischen Version der Presserklärung

Im Jahr 1963 schlossen die Türkei und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sowie deren Mitgliedstaaten ein Assoziierungsabkommen1, das zum Ziel hat, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern, um die Lebenshaltung des türkischen Volkes zu bessern und später den Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern. Es sieht u. a. vor, dass sich die Vertragsparteien von den Vorschriften des EWG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten leiten lassen, um untereinander alle Beschränkungen dieses Grundsatzes aufzuheben.

Das 1970 unterzeichnete Zusatzprotokoll2 zu diesem Abkommen enthält eine Stillhalteklausel, die es den Vertragsparteien untersagt, nach Inkrafttreten des Protokolls neue Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen.

Frau Demirkan, eine türkische Staatsangehörige, der die deutschen Behörden ein Visum für den Besuch ihres in Deutschland wohnenden Stiefvaters verweigerten, beruft sich vor den deutschen Gerichten auf die Stillhalteklausel. Ihrer Ansicht nach verbietet diese Klausel die Einführung neuer Beschränkungen wie einer Visumpflicht nicht nur gegenüber denjenigen, die eine Dienstleistung erbringen wollen („aktive“ Dienstleistungsfreiheit)3, sondern auch gegenüber denjenigen, die eine Dienstleistung in Anspruch nehmen wollen („passive“ Dienstleistungsfreiheit). Frau Demirkan macht geltend, dass sie als potenzielle Empfängerin von Dienstleistungen anzusehen sei, da ein Besuch bei einem Familienangehörigen in Deutschland die Möglichkeit impliziere, dort Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Überdies sei nach dem bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls für Deutschland im Jahr 1973 geltenden deutschen Recht die Einreise türkischer Staatsangehöriger zu einem Besuchsaufenthalt nicht visumpflichtig gewesen. Die Stillhalteklausel bewirke daher, dass die von Deutschland 1980 für türkische Staatsangehörige eingeführte allgemeine Visumpflicht4 für sie nicht gelte.

Das in zweiter Instanz angerufene Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ersucht den Gerichtshof um Aufschluss über die Tragweite der Stillhalteklausel.

Mit seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass der Begriff „freier Dienstleistungsverkehr“ in der Stillhalteklausel des Zusatzprotokolls nicht die passive Dienstleistungsfreiheit erfasst, d. h. die Freiheit türkischer Staatsangehöriger, sich als Dienstleistungsempfänger in einen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der den Angehörigen der Mitgliedstaaten – und damit den Unionsbürgern – durch die Unionsverträge verbürgte freie Dienstleistungsverkehr nicht nur die aktive Dienstleistungsfreiheit, sondern, wie er in seinem Urteil Luisi und Carbone von 1984 anerkannt hat5, als notwendige Ergänzung auch die passive Dienstleistungsfreiheit umfasst. Daher genießen Unionsbürger, die sich, wie etwa Touristen oder Patienten, in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dort Dienstleistungen in Empfang zu nehmen oder die Möglichkeit dazu zu haben, den Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit. Dieser Schutz beruht auf dem Ziel, einen als Raum ohne Binnengrenzen konzipierten Binnenmarkt zu schaffen, indem alle der Schaffung eines solchen Marktes entgegenstehenden Hemmnisse abgebaut werden.

Wegen der grundlegenden Unterschiede, die zwischen den Unionsverträgen einerseits und dem Assoziierungsabkommen und seinem Zusatzprotokoll andererseits hinsichtlich ihres Zwecks wie auch ihres Kontexts bestehen, lässt sich die vom Gerichtshof im Jahr 1984 für die Unionsverträge vorgenommene Erstreckung des Begriffs des freien Dienstleistungsverkehrs auf die passive Dienstleistungsfreiheit aber nicht auf die Stillhalteklausel de Zusatzprotokolls übertragen.

Im Unterschied zu den Unionsverträgen verfolgt die Assoziation EWG-Türkei nämlich einen ausschließlich wirtschaftlichen Zweck, da das Assoziierungsabkommen und sein Zusatzprotokoll im Wesentlichen die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei fördern sollen. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Freiheiten zur Ermöglichung einer generellen Freizügigkeit, die mit der nach den Unionsverträgen für die Unionsbürger geltenden vergleichbar wäre, ist nicht Gegenstand des Assoziierungsabkommens. Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass der Assoziationsrat, der gemäß dem Zusatzprotokoll Zeitfolge und Einzelheiten der schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs festsetzen soll, bisher keine Maßnahme ergriffen hat, die dessen Verwirklichung substanziell vorantreiben würde. Überdies gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Vertragsparteien des Assoziierungsabkommens und des Zusatzprotokolls bei deren Unterzeichnung, d. h. 21 bzw. 14 Jahre vor dem Urteil Luisi und Carbone, davon ausgingen, dass der freie Dienstleistungsverkehr auch die passive Dienstleistungsfreiheit umfasst.

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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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1Unterzeichnet am 12. September 1963 in Ankara und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt.
2Unterzeichnet am 23. November 1970 in Brüssel und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt.
3Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Stillhalteklausel es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger zu verlangen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zuvor nicht verlangt wurde (Urteil des Gerichtshofs vom 19. Februar 2009, Soysal und Savatli, C-228/06).
4Seit 2001 sieht auch das Unionsrecht eine Visumpflicht für türkische Staatsangehörige vor, vgl. Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 81, S. 1).
5Urteil des Gerichtshofs vom 31. Januar 1984, Luisi und Carbone (286/82 und 26/83).
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Die von uns erfassten Urteile wurden oft anders formatiert als das Original. Dies bedeutet, daß Absätze eingefügt und Hervorhebungen durch fett-/kursiv-/&farbig-machen sowie Unterstreichungen vorgenommen wurden. Dies soll verdeutlichen, aber keinesfalls natürlich den Sinn verändern.Wenn Sie vorsichtshalber zusätzlich die Originalversion sehen möchten, hier ist der Link zur Quelle (kein Link? Dann ist dieser Link nicht in unserer DB gespeichert, z.B. weil das Urteil vor Frühjahr 2009 gespeichert worden ist).
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