Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-478/11 P, C-479/11 P, C-480/11 P, C-481/11 P, C-482/11 P
Der Gerichtshof bestätigt, dass ihre Klagen verspätet erhoben wurden und weist ihr Vorbringen zum Vorliegen höherer Gewalt zurück
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Im Herbst 2010 fanden in Côte d’Ivoire Präsidentschaftswahlen statt. Die UNO bestätigte nach Abschluss der Wahlen den Sieg von Herrn Alassane Ouattara. In diesem Kontext erließ der Rat der Europäischen Union eine Reihe von Rechtsakten
1, mit denen restriktive Maßnahmen betreffend Reisen und das Einfrieren von Geldern gegen Personen erlassen wurden, die den Prozess des Friedens und der nationalen Aussöhnung in Côte d’Ivoire blockierten und insbesondere den erfolgreichen Abschluss des Wahlprozesses gefährdeten. Zu den Adressaten dieser Maßnahmen gehörten Herr Gbagbo, der ehemalige Präsident von Côte d’Ivoire, Herr N’Guessan, der ehemalige Premierminister, Herr Djédjé, Herr Koné und Frau Boni-Claverie, die der unrechtmäßigen Regierung von Herrn Gbagbo angehört haben sollen.
Am 7. Juli 2011 erhoben diese Personen beim Gericht der Europäischen Union Nichtigkeitsklagen gegen mehrere dieser vom Rat erlassenen Rechtsakte, soweit sie von diesen betroffen waren. Mit Beschlüssen vom 13. Juli 2011
2 wies das Gericht ihre Klagen wegen Verspätung als offensichtlich unzulässig ab.
Am 21. September 2011 legten Herr Gbagbo, Herr Koné, Frau Boni-Claverie, Herr Djédjé und Herr N’Guessan gegen diese Beschlüsse des Gerichts Rechtsmittel beim Gerichtshof ein.
Zum einen machen sie geltend, das Gericht habe dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass es davon ausgegangen sei, die Klagefrist müsse, da die Rechtsakte veröffentlicht worden seien, ab dem Datum ihrer Veröffentlichung berechnet werden.
Der Gerichtshof stellt in seinem Urteil vom heutigen Tag fest, dass die Rechtsakte im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind, dass sie den Betroffenen aber auch entweder auf direktem Weg, falls ihre Anschrift bekannt ist, oder anderenfalls durch die Veröffentlichung einer Bekanntmachung zur Kenntnis gebracht werden mussten. Durch diese Bekanntmachung soll den Adressaten gerade ermöglicht werden, ihre Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es sinnvoll ist, den Unionsrichter anzurufen. Somit beginnt die Frist für die Erhebung einer Klage auf Nichtigerklärung dieser Rechtsakte für jede Person und Organisation, die Adressat der Maßnahmen ist, ab dem Zeitpunkt der ihr gegenüber erforderlichen Mitteilung und nicht ab der Veröffentlichung der Rechtsakte im Amtsblatt der Europäischen Union.
Herr Gbagbo, Herr Koné, Frau Boni-Claverie, Herr Djédjé und Herr N’Guessan sind der Ansicht, dass die Rechtsakte ihnen nicht ordnungsgemäß mitgeteilt worden seien, weil sie nicht auf direktem Weg davon in Kenntnis gesetzt worden seien, sondern die Mitteilung indirekt durch Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union erfolgt sei. Da nach Auffassung des Gerichtshofs die Betroffenen anhand solcher Bekanntmachungen erkennen können, welcher Rechtsbehelf ihnen für die Anfechtung ihrer Aufnahme in die in Rede stehenden Listen zur Verfügung steht und wann die Rechtsbehelfsfrist abläuft, können sie den Beginn der Rechtsbehelfsfrist nicht dadurch hinauszögern, dass sie sich darauf berufen, sie seien von den streitigen Rechtsakten nicht auf direktem Weg in Kenntnis gesetzt worden oder hätten von ihnen erst später tatsächlich Kenntnis erlangt. Bestünde eine solche Möglichkeit, ohne dass ein Fall höherer Gewalt vorliegt, liefe dies dem eigentlichen Zweck der Klagefrist zuwider, der darin besteht, die Rechtssicherheit dadurch zu wahren, dass Handlungen der Union, die Rechtswirkungen entfalten, nicht unbegrenzt in Frage gestellt werden können.
Folglich sind die Rechtsakte den Rechtsmittelführern tatsächlich mitgeteilt worden und die Klagefrist lief ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Bekanntmachungen.
Somit hat das Gericht mit der Feststellung, die Klagefristen hätten mit der Veröffentlichung der streitigen Rechtsakte begonnen, einen Rechtsfehler begangen. Wenn diese Fristen auch ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Bekanntmachungen hätten berechnet werden müssen, waren sie zum Zeitpunkt der Klageerhebung jedoch bereits abgelaufen. Daher
hat das Gericht die Klagen zutreffend als unzulässig abgewiesen, weil sie verspätet erhoben worden waren.
Zum anderen werfen Herr Gbagbo, Herr Koné, Frau Boni-Claverie, Herr Djédjé und Herr N’Guessan dem Gericht vor, dass es den bewaffneten Konflikt in Côte d’Ivoire nicht als einen Fall höherer Gewalt angesehen habe, der sie an einer wirksamen Ausübung ihrer Klagerechte gehindert habe.
Der Gerichtshof weist diese Argumentation zurück. Zwar hat der Ablauf von Fristen keinen Rechtsnachteil zur Folge, wenn ein Fall höherer Gewalt vorliegt, aber nach Ansicht des Gerichtshofs haben sich die Rechtsmittelführer darauf beschränkt, sich allgemein auf den bewaffneten Konflikt in Côte d’Ivoire zu berufen, ohne Anhaltspunkte dafür vorgetragen zu haben, inwiefern und wie lange genau die allgemeine Lage während des bewaffneten Konflikts in Côte d’Ivoire und die von den Rechtsmittelführern geltend gemachten persönlichen Umstände sie an der rechtzeitigen Klageerhebung gehindert haben. Somit
kann vorliegend kein Fall höherer Gewalt festgestellt werden.
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HINWEIS: Beim Gerichtshof kann ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel gegen ein Urteil oder einen Beschluss des Gerichts eingelegt werden. Das Rechtsmittel hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Ist das Rechtsmittel zulässig und begründet, hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Ist die Rechtssache zur Entscheidung reif, kann der Gerichtshof den Rechtsstreit selbst entscheiden. Andernfalls verweist er die Rechtssache an das Gericht zurück, das an die Rechtsmittelentscheidung des Gerichtshofs gebunden ist.
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1Insbesondere den Beschluss 2010/656/GASP des Rates vom 29. Oktober 2010 zur Verlängerung der restriktiven Maßnahmen gegen Côte d’Ivoire (ABl. L 285, S. 28), geändert durch die Beschlüsse vom 22. Dezember 2010, vom 11. und 14. Januar 2011 und vom 6. April 2011 sowie die Verordnung (EG) Nr. 560/2005 des Rates vom 12. April 2005 über die Anwendung spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Republik Côte d’Ivoire (ABl. L 95, S. 1), geändert durch die Verordnungen vom 14. Januar und 6. April 2011.
2Beschlüsse des Gerichts vom 13. Juli 2011, Gbagbo/Rat (T-348/11), Koné/Rat (T-349/11), Boni-Claverie/Rat (T-350/11), Djédjé/Rat (T-351/11), N’Guessan/Rat (T-352/11).