Text des Beschlusses
1 Ws 394/11;
Verkündet am:
06.09.2011
OLG Oberlandesgericht
Jena
Vorinstanzen:
361 Js 32439/01 4 Ns
Landgericht
E;
Rechtskräftig: unbekannt!
Die in einer überlangen Verfahrensdauer liegende Verletzung des Beschleunigungsgebots führt grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis
Leitsatz des Gerichts:
EMRK Art. 6 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3; StPO § 206a
Die in einer überlangen Verfahrensdauer liegende Verletzung des Beschleunigungsgebots führt grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis. Verfahrensverzögerungen sind viel-mehr grundsätzlich im Rahmen des fortzuführenden Strafverfahrens zu berücksichtigen.
Allerdings sind Fälle vorstellbar, in denen selbst das sog. Vollstreckungsmodell keine ausreichende Handhabe gibt, den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot und die damit einhergehende Verletzung der Rechte des Angeklagten angemessen zu kompensieren. In solchen Extremfällen, in denen allein schon jede weitere Fortführung des Strafverfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist, kann es ausnahmsweise geboten sein, aus der Verletzung des Beschleunigungsgebots ein Verfahrenshindernis abzuleiten. Eine solch erhebliche Verletzung des Rechtsstaatsgebots ist aber nicht bereits bei einem besonders schweren Ausmaß der Verfahrensverzögerung anzunehmen. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Dauer des Verfahrens auch mit besonderen Belastungen für den Angeklagten einhergegangen ist, beispielsweise weil längere Zeit gegen ihn die Untersuchungshaft vollstreckt worden ist.
gegen
1. S V,
Verteidiger: Rechtsanwalt Dr. B
2. H V,
Verteidiger: Rechtsanwalt R
wegen
Betruges
hat auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts vom 27.6.2011 der des Thüringer Oberlandesgerichts durch , und am 6. September 2011 beschlossen:
1. Der Beschluss des Landgerichts E vom 27.6.2011 wird aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Angeklagten zu tragen.
Gründe
I.
Nach eigenen Ermittlungen gegen den Angeklagten S V wegen des Verdachts der Hinterziehung von Umsatzsteuer 1999 und Investitionszulagenbetrug 1999 legte das Finanzamt E die Akten mit Schreiben vom 19.7.2000 der Staatsanwaltschaft E unter Hinweis auf Anhaltspunkte für weitere Straftaten des Angeklagten nach §§ 267, 263 und 265b StGB zur Übernahme vor.
Diese wirft den Angeklagten mit Anklageschrift vom 8.5.2003 vor, in der Zeit von Juni 1998 bis Oktober 1999 in W und anderen Orten gemeinschaftlich handelnd in 22 tatmehrheitlichen Fällen zur Täuschung im Rechtsverkehr unechte Urkunden hergestellt und gebraucht zu haben, tateinheitlich in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch geschädigt zu haben, dass sie durch Vorspiegelung falscher oder Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregten oder unterhielten (§§ 263 Abs. 1, 267 Abs. 1, 25 Abs. 2, 52, 53 StGB).
Das Amtsgericht – Schöffengericht – Gotha sprach die Angeklagten mit Urteil vom 29.12.2008 frei. Hinsichtlich einzelner Taten sei Verjährung eingetreten. Im Übrigen könne nicht nachgewiesen werden, ob die Angeklagten gemeinschaftlich oder einer von ihnen allein gehandelt habe. Gegen diese Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft E mit am nämlichen Tage eingegangenem Schriftsatz vom 30.12.2008 Rechtsmittel ein und bezeichnete dieses mit Schriftsatz vom 11.3.2009 als Berufung, die es damit begründete, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei von einer gemeinschaftlichen Tatbegehung der Angeklagten auszugehen. Im Übrigen sei das Amtsgericht rechtsirrig davon ausgegangen, einzelne Taten seien verjährt. Außerdem habe es über den am 29.12.2008 gestellten Beweisantrag nicht entschieden.
Mit Beschluss vom 27.6.2011 stellte das Landgericht E das Verfahren gegen die Angeklagten gemäß § 206a StPO ein, weil die weitere Fortsetzung des Verfahrens gegen das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes und das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK normierte Beschleunigungsgebot verstoße.
Gegen die ihr am 5.7.2011 zugestellte Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft E mit am nämlichen Tage eingegangenem Schriftsatz vom 8.7.2011 sofortige Beschwerde ein und begründete diese mit Schriftsatz vom 26.7.2011 damit, die im vorliegenden Verfahren eingetretenen Verzögerungen erreichten noch nicht einen solchen Grad, der die Annahme eines Verfahrenshindernisses geboten erscheinen lasse. Eine Kompensation sei vielmehr nach der sogenannten Vollstreckungslösung vorzunehmen.
Dem schließt sich die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 23.8.2011 an und beantragt,
den Beschluss des Landgerichts E vom 27.6.2011 aufzuheben.
II.
Die sofortige Beschwerde gegen den Einstellungsbeschluss des Landgerichts E vom 27.6.2011 ist gemäß § 206a Abs. 2 StPO statthaft.
Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere formgerecht nach § 306 Abs. 1 StPO innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt.
Das Rechtsmittel ist begründet.
Ein die Einstellung des Verfahrens nach § 206a StPO gebietender Grund ist nicht gegeben. Ein solcher ergibt sich insbesondere nicht aus der Verletzung des als Ausfluss des Rechtstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankerten und im Übrigen durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK in Verbindung mit dem entsprechenden Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG vom 7.8.1952 auch einfachgesetzlich normierten Beschleunigungsgebots.
Danach hat jede Person ein Recht darauf, dass die staatlichen Organe ein Strafverfahren in angemessener Frist durchführen und zum Abschluss bringen.
Die in einer überlangen Verfahrensdauer liegende Verletzung dieses Beschleunigungsgebots führt indessen grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., Art. 6 MRK Rz. 9; Schneider in KK-StPO, 6. Aufl., § 206a Rz. 8; a. A. Paeffgen in SK-StPO, 4. Aufl., Anhang § 206a Rz. 25 ff.). Verfahrensverzögerungen sind vielmehr grundsätzlich im Rahmen des fortzuführenden Strafverfahrens zu berücksichtigen.
Dabei ist seit dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofes vom 17.1.2008 (BGHSt 52, 124 ff.), dem sich der Senat angeschlossen hat (StV 2009, 132 f.) von folgenden Grundsätzen auszugehen: Zunächst kann einer überdurchschnittlichen langen Verfahrensdauer über den Strafzumessungsgesichtspunkt eines langen zeitlichen Abstands zwischen Tat und Verurteilung hinaus eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommen. Der Gesichtspunkt, dass die überlange Verfahrensdauer ganz oder zum Teil auf einem von den Strafverfolgungsbehörden oder den Gerichten zu verantwortenden und damit rechtsstaatswidrigen Verhalten beruht, ist rechtlich gesondert zu bewerten und nach der sogenannten Vollstreckungslösung aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst. In den Fällen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ist der Angeklagte dementsprechend zu einer angemessen Strafe zu verurteilen. Im Anschluss daran ist zu prüfen, ob zur angemessenen Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung deren ausdrückliche Feststellung in den Urteilsgründen genügt oder ob das Gericht in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB in der Urteilsformel auszusprechen hat, dass ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
Allerdings sind Fälle vorstellbar, in denen selbst das vorstehend dargestellte Vollstreckungsmodell keine ausreichende Handhabe gibt, den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot und die damit einhergehende Verletzung der Rechte des Angeklagten angemessen zu kompensieren. In solchen Extremfällen, in denen allein schon jede weitere Fortführung des Strafverfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist, kann es ausnahmsweise geboten sein, aus der Verletzung des Beschleunigungsgebots ein Verfahrenshindernis abzuleiten. Eine solch erhebliche Verletzung des Rechtsstaatsgebots ist aber nicht bereits bei einem besonders schweren Ausmaß der Verfahrensverzögerung anzunehmen. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Dauer des Verfahrens auch mit besonderen Belastungen für den Angeklagten einhergegangen ist, beispielsweise weil längere Zeit gegen ihn die Untersuchungshaft vollstreckt worden ist (siehe BVerfG NJW 1993, 3254 ff.; NStZ 1984, 128).
So liegt der Fall hier indessen nicht.
Die Angeklagten haben in vorliegender Sache aufgrund der erheblichen Verfahrensverzögerung, die vom Landgericht in der angefochtenen Entscheidung herausgearbeitet wurde, keine so erheblichen Nachteile beziehungsweise Belastungen erlitten, dass dies aus rechtsstaatlicher Sicht die Einstellung des Verfahrens gebieten würde. Untersuchungshaft oder andere anhaltend belastende strafprozessuale Zwangsmaßnahmen wurden gegen die Angeklagten nicht verhängt beziehungsweise vollzogen. Allein der Umstand, dass die Schuld der Angeklagten sowie Art und Ausmaß der gegebenenfalls gegen sie zu verhängenden Strafe über die ungewöhnlich lange Dauer des Verfahrens hinweg letztlich in der Schwebe geblieben sind, ist nicht derart belastend, dass er allein schon jede weitere Fortführung des Strafverfahrens unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als inakzeptabel erscheinen ließe, zumal die Angeklagten mit Urteil des Amtsgerichts Gotha vom 29.12.2008 erstinstanzlich freigesprochen wurden.
Die Kostenentscheidung beruht aufgrund des Erfolgs des zuungunsten der Angeklagten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft auf § 465 Abs. 1 StPO (Meyer-Goßner, a. a. O., § 473 Rz. 15).-----------------------------------------------------
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