Pressemitteilung
C-366/10;
Verkündet am:
06.10.2011
EuGH Europäischer Gerichtshof
Rechtskräftig: unbekannt!
Nach Ansicht von Generalanwältin Kokott ist die Einbeziehung des internationalen Luftverkehrs in das EU-Emissionshandelssystem mit dem Völkerrecht vereinbar
Leitsatz des Gerichts:
EU‑Emissionshandelssystem; Richtlinien 2003/87/EG und 2008/101/EG
Nach Ansicht von Generalanwältin Kokott ist die Einbeziehung des internationalen Luftverkehrs in das EU-Emissionshandelssystem mit dem Völkerrecht vereinbar
Die EU-Gesetzgebung verletzt nicht die völkerrechtlich garantierte Souveränität anderer Staaten oder die Freiheit der Hohen See; sie ist auch mit den relevanten internationalen Übereinkünften vereinbar.
Als zentralen Baustein der europäischen Klimaschutzpolitik beschloss die Europäische Union im Jahr 2003 die Einführung eines Systems für den Handel mit Emissionszertifikaten für Treibhausgase1.
Die auf den Luftverkehr zurückgehenden Emissionen von Treibhausgasen waren ursprünglich nicht vom EU-Emissionshandelssystem erfasst.
Im Jahr 2008 beschloss der Unionsgesetzgeber jedoch ab dem 1. Januar 2012 die Einbeziehung des Luftverkehrs in dieses System2.
Erstmalig für das Jahr 2012 müssen deshalb alle Fluggesellschaften – auch solche aus Drittstaaten – für ihre Flüge von und zu europäischen Flugplätzen Emissionszertifikate erwerben und einlösen.
Mehrere Fluggesellschaften und Vereinigungen von Fluggesellschaften mit Sitz in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) bzw. in Kanada erhoben vor dem High Court of Justice of England and Wales Klage auf Nichtigerklärung der Umsetzungsmaßnahmen des Vereinigten Königreichs zur Richtlinie über die Einbeziehung des Luftverkehrs in das EU-Emissionshandelssystem.
Dabei bringen sie vor, die Europäische Union verstoße mit der Einbeziehung des internationalen Luftverkehrs – insbesondere des transatlantischen Luftverkehrs – gegen eine Reihe von Grundsätzen des Völkergewohnheitsrechts sowie gegen diverse internationale Übereinkünfte.
Die Richtlinie verstoße zum einen gegen das Chicagoer Abkommen3, das Kyoto-Protokoll4 und das sog. Open-Skies-Abkommen5.
Zum anderen verletze sie die völkergewohnheitsrechtlichen Grundsätze der Hoheit der Staaten über ihren eigenen Luftraum, der Ungültigkeit von Souveränitätsansprüchen über die Hohe See und der Freiheit von Flügen über die Hohe See.
In ihren Schlussanträgen vom heutigen Tag kommt Generalanwältin Juliane Kokott zu dem Ergebnis, dass die Einbeziehung des internationalen Luftverkehrs in das EU-Emissionshandelssystem mit den gerügten Bestimmungen und Grundsätzen des Völkerrechts vereinbar ist.
In diesem Zusammenhang stellt Generalanwältin Kokott zunächst fest, dass sich die klagenden Fluggesellschaften und Vereinigungen von Fluggesellschaften grundsätzlich nicht auf die angeführten internationalen Abkommen und das Völkergewohnheitsrecht berufen können.
Sofern die Europäische Union überhaupt an die in Frage stehenden internationalen Abkommen gebunden ist, betreffen diese laut Generalanwältin Kokott vorwiegend Rechtsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien und sind nicht dazu bestimmt, Rechte oder Interessen Einzelner zu schützen. Lediglich zwei Bestimmungen des Open-Skies-Abkommens können im vorliegenden Fall als Prüfungsmaßstab herangezogen werden6. In Bezug auf die in Frage stehenden Grundsätze des Völkergewohnheitsrecht ist die Generalanwältin der Auffassung, dass sie die Reichweite der Souveränitätsrechte von Staaten bestimmen und ihre jeweiligen Hoheitsrechte abgrenzen, aber nicht die Rechtstellung des Einzelnen betreffen.
Im Übrigen ist Generalanwältin Kokott der Ansicht, dass die Richtlinie zur Einbeziehung des Luftverkehrs in das EU-Emissionshandelssystem nicht gegen das Völkerrecht verstößt. Die gerügten Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts und internationalen Übereinkommen werfen keine rechtlichen Bedenken auf, auch nicht soweit das EU-Emissionshandelssystem auf Streckenabschnitte von Flügen erstreckt wird, die außerhalb des Luftraums der Mitgliedstaaten der Europäischen Union stattfinden. Regelungsgegenstand der Richtlinie sind nämlich allein die Starts und Landungen von Luftfahrzeugen auf Flugplätzen in der Europäischen Union, und nur im Hinblick auf solche Starts und Landungen müssen die Unternehmen je Flug Emissionszertifikate in unterschiedlicher Höhe einlösen, wobei ihnen im Fall der Nichtbeachtung Sanktionen bis hin zur Betriebsuntersagung drohen. Die Richtlinie enthält somit keine extraterritoriale Regelung und verletzt auch nicht die Souveränitätsrechte von Drittstaaten. Vielmehr sind Start und Landung wesentliche und besonders charakteristische Bestandteile eines jeden Fluges, so dass ein Flugplatz im Hoheitsgebiet der EU als Start- oder Zielort ein hinreichender territorialer Anknüpfungspunkt ist, um den jeweiligen Flug zur Gänze in das EU-Emissionshandelssystem einzubeziehen.
Hinsichtlich der in Frage stehenden Bestimmungen internationaler Übereinkommen ist die Generalanwältin der Auffassung, dass diese die Gültigkeit der Richtlinie ebenfalls nicht berühren. Diesbezüglich liegt kein unzulässiger Alleingang der EU außerhalb der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) vor, da das Kyoto-Protokoll die Begrenzung und Reduktion von Treibhausgasen nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der ICAO legt. Auch das Open-Skies-Abkommen schließt die Anwendung marktgestützter Maßnahmen in Bezug auf luftverkehrsbedingte Emissionen nicht aus.
Weiterhin ist die Einbeziehung der Flüge aller Luftfahrtunternehmen von und zu europäischen Flugplätzen in das EU-Emissionshandelssystem mit dem im Open-Skies-Abkommen niedergelegten Grundsatz billiger und gleicher Wettbewerbsbedingungen vereinbar. Diese Einbeziehung stellt sogar die Chancengleichheit im Wettbewerb erst her. Ansonsten würden nämlich Luftfahrtunternehmen, die die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzen, gegenüber ihren europäischen Mitbewerbern einen nicht gerechtfertigten Wettbewerbsvorteil erlangen, wenn der Unionsgesetzgeber sie vom EU-Emissionshandelssystem ausgenommen hätte.
Schließlich ist Generalanwältin Kokott der Ansicht, dass Luftfahrtunternehmen im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems keinerlei Gebühren, Steuern oder sonstige Abgaben im Sinne der einschlägigen völkerrechtlichen Übereinkommen abverlangt werden. Das EU-Emissionshandelssystem ist eine marktgestützte Maßnahme, die dem Umwelt- und Klimaschutz dient. Dementsprechend werden die Emissionszertifikate, die für Flüge mit Start oder Landung auf Flugplätzen in der Europäischen Union einzulösen sind, wegen des Ausstoßes von Treibhausgasen erhoben und nicht wegen des bloßen Verbrauchs von Treibstoff oder der an Bord befindlichen Personen oder Güter.
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1 Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. L 275, S. 32).
2 Richtlinie 2008/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Einbeziehung des Luftverkehrs in das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft (ABl. 2009, L 8, S. 3).
3 Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt vom 7. Dezember 1944.
4 Protokoll von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vom 11. Dezember 1997 (ABl. 2002, L 130, S. 4).
5 Luftverkehrsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den Vereinigten Staaten von Amerika andererseits vom April 2007 (ABl. L 134, S. 4).
6 Art. 7 und Art. 15 Abs. 3 Satz 2 des Open-Skies-Abkommens.
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