Pressemitteilung
C-282/10;
Verkündet am:
08.09.2011
EuGH Europäischer Gerichtshof
Rechtskräftig: unbekannt!
Nach Ansicht von Generalanwältin Trstenjak kann Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht von einer im nationalen Recht bestimmten Mindestarbeitszeit von 10 Tagen abhängig gemacht werden
Leitsatz des Gerichts:
Charta - Art. 31 Abs. 2; Richtlinie 2003/88/EG - Art. 7
Nach Ansicht von Generalanwältin Trstenjak kann die Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht von einer im nationalen Recht bestimmten Mindestarbeitszeit von 10 Tagen abhängig gemacht werden
Vor dem nationalen Richter kann sich der Arbeitnehmer allerdings nicht unmittelbar gegenüber seinem Arbeitgeber auf diesen Anspruch berufen
Die Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung1 räumt jedem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Jahresurlaub ein.
Nach dem französischen Arbeitsgesetzbuch ist die Entstehung des Anspruchs auf Jahresurlaub selbst an die Bedingung geknüpft, dass der Arbeitnehmer während des Bezugszeitraums eine effektive Mindestarbeitszeit von 10 Tagen beim selben Arbeitgeber absolviert2.
Frau Dominguez ist seit dem 10. Januar 1987 Angestellte des Centre Informatique du Centre Ouest Atlantique.
Am 3. November 2005 erlitt sie einen Wegeunfall zwischen ihrem Wohnsitz und ihrem Arbeitsort. Infolge dieses Unfalls war sie vom 3. November 2005 bis zum 7. Januar 2007 krankgeschrieben. Am 8. Januar 2007 nahm sie ihre Arbeit wieder auf.
Nach ihrer Rückkehr teilte ihr das Centre Informatique du Centre Ouest Atlantique die Anzahl der Urlaubstage mit, die ihr, unter Zugrundelegung des französischen Arbeitsgesetzbuches, nach seinen Berechnungen für den Zeitraum ihrer Abwesenheit zustanden.
Dagegen legte Frau Dominguez Widerspruch ein und machte gegen ihren Arbeitgeber für diesen Zeitraum 22,5 bezahlte Urlaubstage, hilfsweise eine Ausgleichszahlung in Höhe von 1971,39 Euro geltend.
Das vorlegende Gericht, die Cour de Cassation (Frankreich), stellt dem Gerichtshof Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit der französischen arbeitsrechtlichen Vorschriften mit dem Unionsrecht und der Pflicht des nationalen Gerichts, dem Unionsrecht entgegenstehende nationale Bestimmungen unangewendet zu lassen.
In ihren heutigen Schlussanträgen weist Generalanwältin Verica Trstenjak zunächst darauf hin, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen.
Eine Grenze findet diese mitgliedstaatliche Regelungskompetenz allerdings dort, wo die gewählte Regelung insofern die Effektivität des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub berührt, als die Erreichung des Zwecks des Urlaubsanspruchs nicht mehr gewährleistet ist.
Die streitige französische Regelung kann nach Auffassung von Generalanwältin Trstenjak nicht als mit der Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung vereinbar angesehen werden kann, da die Entstehung des Anspruchs selbst an die Bedingung geknüpft ist, dass der Arbeitnehmer im jeweiligen Bezugsjahr eine Mindestarbeitszeit von 10 Tagen absolviert.
In diesem Zusammenhang hebt die Generalanwältin hervor, dass insbesondere eine krankheitsbedingte Abwesenheit eines Arbeitnehmers im jeweiligen Bezugsjahr der Entstehung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht entgegenstehen kann, sofern dieser ordnungsgemäß krankgeschrieben war.
Arbeitsversäumnisse aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen, wie z. B. Krankheit, seien als Dienstzeit anzurechnen.
Hinsichtlich der Durchsetzbarkeit des Anspruchs auf Jahresurlaub bei Unvereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem Unionsrecht möchte die Cour de Cassation wissen, ob die Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung dem nationalen Richter die Verpflichtung auferlegt, die nationale Regelung in einem Streitfall zwischen Privatpersonen unangewendet zu lassen, oder ob sich der Arbeitgeber auch im Verhältnis zu seinem Arbeitgeber unmittelbar auf die Richtlinie berufen kann. Davon ausgehend, dass im Ausgangsfall eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich ist, ohne das nationale Recht contra legem auszulegen, prüft Generalanwältin Trstenjak verschiedene Lösungsansätze. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass weder die Möglichkeit einer Horizontalwirkung von Richtlinien noch eine unmittelbare Anwendung des in der Charta der Grundrechte verankerten Grundrechts auf bezahlten Jahresurlaub3 dem Arbeitnehmer dazu verhelfen können, seine Rechte gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen. Auch eine Einordnung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub als einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts kann nach Ansicht der Generalanwältin nicht zu einer unmittelbaren Anwendung der Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung im Verhältnis zwischen Privaten führen. Weiterhin lässt sich der Ansatz des Gerichtshofs im Urteil Kücükdeveci4 nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Somit kommt die Generalanwältin zu dem Ergebnis, dass das Unionsrecht der Cour de Cassation keine Möglichkeit einräumt, die streitige nationale Regelung unangewendet zu lassen.
Anschließend weist Generalanwältin Trstenjak darauf hin, dass Frau Dominguez im Rahmen des festgestellten Verstoßes gegen das Unionsrecht wegen mangelhafter Umsetzung der Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung keineswegs rechtlos gestellt ist. Vielmehr steht ihr zur Durchsetzung des aus dem Unionsrecht abgeleiteten Anspruchs auf Jahresurlaub die Möglichkeit einer Staatshaftungsklage gegen den vertragsbrüchigen Mitgliedstaat offen.
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1 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9). Der konkrete Anspruch resultiert aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG.
2 Artikel L. 3141-3 des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch).
3 Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte.
4 Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci (C-555/07), siehe dazu PM 4/10.
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HINWEIS: Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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