Pressemitteilung
C-506/08 P;
Verkündet am:
21.07.2011
EuGH Europäischer Gerichtshof
Rechtskräftig: unbekannt!
EU-Kommission aufgehoben: Zur Verweigerung des Zugangs zu EU-Dokumenten müssen besondere Gründe dargelegt werden, die die Schlussfolgerung erlauben, dass Entscheidungsprozess des Organs + Schutz der Rechtsberatung ernstlich gefährdet wären
Leitsatz des Gerichts:
Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – § 4 Abs. 2, zweiter Spiegelstrich, und Abs. 3, zweiter Unterabsatz
Das Urteil des Gerichts und die Entscheidungen der Kommission, mit denen der Zugang zu bestimmten internen Dokumenten des Organs im Kontext eines bereits abgeschlossenen Zusammenschlussverfahrens verweigert wurde, werden vom Gerichtshof teilweise aufgehoben bzw. für nichtig erklärt
Zur Rechtfertigung der Verweigerung des Zugangs muss die Kommission die besonderen Gründe darlegen, die die Schlussfolgerung erlauben, dass die Verbreitung der Dokumente den Entscheidungsprozess des Organs und den Schutz der Rechtsberatung ernstlich gefährdet hätte
Die Verordnung über den Zugang zu Dokumenten1 gibt der Öffentlichkeit ein umfangreiches Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Organe der Europäischen Union.
Sie enthält jedoch eine Regelung über Ausnahmen, wonach die Organe den Zugang zu einem Dokument u. a. dann verweigern können, wenn durch dessen Verbreitung der Entscheidungsprozess und der Schutz der Rechtsberatung beeinträchtigt würde, es sei denn, ein überwiegendes öffentliches Interesse rechtfertigt diese Verbreitung.
Die vorliegende Rechtssache gehört zu einem Rechtsstreit, der 1999 seinen Ausgang nahm, als MyTravel (damals noch Airtours), ein Reiseunternehmen im Vereinigten Königreich, bei der Kommission ein Zusammenschlussvorhaben mit ihrem Wettbewerber First Choice anmeldete, um für dieses Vorhaben eine Erlaubnis einzuholen.
Die Kommission lehnte ab2, weil dieser Zusammenschluss mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sei.
Auf die von MyTravel erhobene Klage wurde die Entscheidung der Kommission mit einem Urteil des Gerichts vom 6. Juni 2002 für nichtig erklärt3.
Daraufhin setzte die Kommission eine Arbeitsgruppe aus Beamten ihrer Generaldirektion „Wettbewerb“ und ihres Juristischen Dienstes ein, um zu prüfen, ob es angebracht wäre, ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts einzulegen, und um die Auswirkungen des Urteils auf die Verfahren zur Kontrolle von Zusammenschlüssen oder in anderen Bereichen zu beurteilen. Diese Arbeitsgruppe verfasste einen Bericht, der dem für Wettbewerbsfragen zuständigen Mitglied der Kommission vor Ablauf der Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels gegen dieses Urteil des Gerichts vorgelegt wurde.
MyTravel beantragte Zugang zu diesem Bericht, zu den Dokumenten zu seiner Vorbereitung sowie zu den Dokumenten in der Akte über den Zusammenschluss, auf die sich der Bericht stützte.
Mit zwei separaten Entscheidungen4 weigerte sich die Kommission, diese Dokumente zu übermitteln, und begründete dies zum einen damit, dass ihre Verbreitung insbesondere den Entscheidungsprozess und den Schutz der Rechtsberatung beeinträchtigen würde, und zum anderen damit, dass kein überwiegendes öffentliches Interesse die Verbreitung derartiger Dokumente rechtfertige.
Mit Urteil vom 9. September 20085 wies das Gericht die Klage von MyTravel gegen diese Entscheidungen mit der Begründung ab, die Kommission habe den Zugang zu den begehrten Dokumenten zu Recht verweigert, soweit deren Übermittlung den Schutz des Entscheidungsprozesses des Organs sowie den Schutz der Rechtsberatung hätte beeinträchtigen können. Schweden hat in der Folge beschlossen, den Gerichtshof anzurufen, und die Aufhebung dieses Urteils des Gerichts beantragt.
Zunächst stellt der Gerichtshof klar, dass einige der betreffenden Dokumente zur Verwaltungstätigkeit der Kommission gehören. Hinsichtlich dieser Verwaltungstätigkeit ist kein ebenso breiter Zugang zu Dokumenten erforderlich wie bei der gesetzgeberischen Tätigkeit eines Organs der Union. Dies bedeutet aber nicht, dass eine derartige Tätigkeit außerhalb des Anwendungsbereichs der Vorschriften über den Zugang zu Dokumenten liegt.
Diese Vorschriften sehen Ausnahmen vor, die von dem Grundsatz des größtmöglichen Zugangs der Öffentlichkeit zu Dokumenten abweichen und daher eng auszulegen und anzuwenden sind. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass dann, wenn ein Organ beschließt, den Zugang zu einem Dokument zu verweigern, dessen Übermittlung bei ihm beantragt wurde, es grundsätzlich erläutern muss, inwiefern der Zugang zu diesem Dokument das von der Kommission vorliegend geltend gemachte geschützte Interesse konkret und tatsächlich beeinträchtigen könnte – nämlich insbesondere den Schutz des Entscheidungsprozesses des Organs und den Schutz der Rechtsberatung.
In Bezug auf die Ausnahme zum Schutz des Entscheidungsprozesses des Organs weist der Gerichtshof darauf hin, dass MyTravel ihren Antrag auf Zugang zu den Dokumenten nach Ablauf der Rechtsmittelfrist gegen das Urteil des Gerichts gestellt hat, mit dem die Entscheidung der Kommission hinsichtlich des fraglichen Zusammenschlussvorhabens für nichtig erklärt worden war. Der Gerichtshof würdigt alle fraglichen Dokumente und gelangt u. a. zu dem Ergebnis, dass das Gericht von der Kommission hätte verlangen müssen, dass sie die besonderen Gründe angibt, aus denen sie der Ansicht war, dass die Verbreitung bestimmter in Rede stehender Dokumente den Entscheidungsprozess der Kommission, selbst nachdem das Verfahren, auf das sich diese Dokumente bezogen, abgeschlossen war, ernstlich beeinträchtig hätte.
Hinsichtlich der Ausnahme zum Schutz der Rechtsberatung befand das Gericht insbesondere, dass bei Verbreitung der internen Mitteilungen des Juristischen Dienstes der Kommission die Gefahr bestanden hätte, dass an die Öffentlichkeit Informationen über den Stand der internen Diskussionen zwischen der GD „Wettbewerb“ und dem Juristischen Dienst über die Rechtmäßigkeit der Entscheidung von 1999 gelangten, mit der der betreffende Zusammenschluss für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt worden sei, was die Rechtmäßigkeit späterer Entscheidungen in demselben Bereich hätte in Frage stellen können. Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass Transparenz es ermöglicht, die Unterschiede zwischen mehreren Standpunkten offen zu erörtern, und so dazu beiträgt, den Organen in den Augen der Unionsbürger größere Legitimität zu verleihen.
Der Gerichtshof gelangt somit zu dem Ergebnis, dass die Kommission in ihren Entscheidungen die Ausnahme zum Schutz des Entscheidungsprozesses dieses Organs und die Ausnahme zum Schutz der Rechtsberatung nicht zutreffend angewandt hat. Er entscheidet sodann, in diesen Punkten das Urteil des Gerichts aufzuheben und die beiden Entscheidungen der Kommission für nichtig zu erklären.
Da bestimmte Argumente, die die Kommission geltend gemacht hatte, um die Verbreitung bestimmter anderer interner Dokumente zu verweigern – insbesondere diejenigen Argumente, die sich auf die anderen Ausnahmen zum Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten beziehen – vom Gericht nicht geprüft wurden, sieht sich der Gerichtshof nicht in der Lage, hierüber zu befinden, und entscheidet, die Sache zu erneuter Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen.
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1 Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. L 145, S. 43).
2 Entscheidung 2000/276/EG der Kommission vom 22. September 1999 zur Erklärung der Unvereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt und mit dem EWR-Abkommen (Sache IV/M.1524 – Airtours/First Choice) (ABl. 2000, L 93, S. 1).
3 Urteil des Gerichts vom 6. Juni 2002, Airtours/Kommission (vgl. Pressemitteilung Nr. 50/02).
4 Entscheidung D(2005) 8461 der Kommission vom 5. September 2005 und Entscheidung D(2005) 9763 der Kommission vom 12. Oktober 2005.
5 Urteil des Gerichts vom 9. September 2008, MyTravel/Kommission (T-403/05).
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