Text des Beschlusses
1 Ws 457/10;
Verkündet am:
29.11.2010
OLG Oberlandesgericht
Jena
Vorinstanzen:
132 Js 52585/06 1 KLs
Landgericht
Mühlhausen;
Rechtskräftig: unbekannt!
Trotz vermeidbarer schwerwiegender Verfahrensverzögerungen kann die Anordnung der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr rechtmäßig sein, sofern die Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO noch nicht abgelaufen ist
Leitsatz des Gerichts:
StPO §§ 112, 112a Abs. 1 Nr. 1
Trotz vermeidbarer schwerwiegender Verfahrensverzögerungen kann die Anordnung der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr rechtmäßig sein, sofern die Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO noch nicht abgelaufen ist.
Es sind dann allerdings erhöhte Anforderungen an die Art und die Intensität der Wiederholungsgefahr zu stellen (hochrangige Rechtsgüter, hohe Wahrscheinlichkeit erneuter Tatbegehung).
In dem Strafverfahrens
gegen F P,
geb. am in,
,
Verteidiger: Rechtsanwalt K
Rechtsanwalt U
wegen Vergewaltigung
hier: Fortdauer der Untersuchungshaft
hat auf die Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Beschluss des Landgerichts vom 16.09.2010 der des Thüringer Oberlandesgerichts durch , und am 29. November 2010 beschlossen:
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeschuldigten verworfen.
Gründe:
I.
Im vorliegenden Strafverfahren wird dem Angeschuldigten zur Last gelegt, am 09.06.2006 in der Wohnung seiner Großmutter in der Steinbrückstraße 3 in Bad Frankenhausen die Geschädigte S St vergewaltigt zu haben, Verbrechen nach § 177 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 Ziff. 1 StGB.
Der damalige Beschuldigte wurde zur Frage der Schuldfähigkeit im August 2007 psychiatrisch-psychologisch begutachtet. Der Gutachter Dr. K kam in dem Gutachten vom 22.08.2007 zu dem Ergebnis, dass im Falle einer Verurteilung die Anwendung der §§ 20, 21 StGB nicht empfohlen werde und die formalen Voraussetzungen für eine Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB nicht vorlägen.
Am 16.06.2010 erhob die Staatsanwaltschaft Mühlhausen Anklage zum Landgericht Mühlhausen.
In dem Verfahren 140 Js 60007/06 1 KLs war der Angeschuldigte am 01.02.2007 durch das Landgericht Erfurt vom Schuldvorwurf der versuchten schweren sexuellen Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung nach § 177 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 3 Ziff. 2, 223, 22, 23, 52 StGB freigesprochen worden. Gleichzeitig ordnete das Landgericht Erfurt die Unterbringung des Angeschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus an, § 63 StGB. In jenem Verfahren hatte der Sachverständige Prof. Dr. V eingeschätzt, dass der Angeschuldigte die am 30.06.2006 begangene Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen habe. Der Gutachter diagnostizierte beim Angeschuldigten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung und eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ bei Vorliegen einer leichten Intelligenzminderung verbunden mit deutlichen Verhaltensstörungen. Es sei beim Angeschuldigten ein unreflektierter Gebrauch von Alkohol zu verzeichnen, ohne dass allerdings die diagnostischen Kriterien einer Alkoholabhängigkeit gegeben seien. Aufgrund des Zusammenwirkens der Störungen konnte der Sachverständige nicht ausschließen, dass der Angeschuldigte nicht in der Lage war, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
Mit Beschlüssen vom 06.02.2008, 28.01.2009 und 10.02.2010 ordnete die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Mühlhausen in jenem Verfahren jeweils die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Auf die Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Mühlhausen vom 10.02.2010 hob der Senat nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Psychiaters Dr. St mit Beschluss vom 10.09.2010 den angefochtenen Beschluss auf und erklärte die Unterbringung des Angeschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 67d Abs. 6 StGB für erledigt.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Mühlhausen ordnete das Landgericht Mühlhausen mit Haftbefehl vom 06.09.2010 gegen den Angeschuldigten in vorliegender Sache die Untersuchungshaft, gestützt auf den Haftgrund der Fluchtgefahr, nach Maßgabe der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Mühlhausen vom 25.05.2010 an. Der Haftbefehl wurde dem Angeschuldigten am 10.09.2010 vor dem Amtsgericht Mühlhausen verkündet. Seit diesem Tag befindet sich der Angeschuldigte in Untersuchungshaft in der JVA Tonna.
Auf Antrag des Angeschuldigten wurde er am 16.09.2010 dem zuständigen Landgericht Mühlhausen zur Vernehmung vorgeführt, wobei das Landgericht im Ergebnis dieses Termins Haftfortdauer anordnete. Gegen diesen Beschluss legte der Angeschuldigte durch seinen Verteidiger Rechtsanwalt K am 21.10.2010 Beschwerde ein.
Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 09.11.2010 mit Vorlage der Sache an den Senat die Verwerfung der Beschwerde beantragt.
Unter dem 15.11.2010 hat der Senat eine dienstliche Äußerung des Leitenden Oberstaatsanwalts der Staatsanwaltschaft Mühlhausen zu den im vorliegenden Verfahren eingetretenen Verzögerungen eingeholt und dazu nochmals dem Angeschuldigten und seinem Verteidiger rechtliches Gehör gewährt.
Rechtsanwalt Ulrich hat für den Angeschuldigten unter dem 24.11.2010 die Aufhebung des Haftbefehls vom 06.09.2010 beantragt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, aber in der Sache nicht begründet.
Das Landgericht Mühlhausen hat mit Beschluss vom 16.09.2010 es zu Recht abgelehnt, den Haftbefehl des Landgerichts Mühlhausen vom 06.09.2010 aufzuheben und außer Vollzug zu setzen.
1. Der Angeschuldigte ist dringend verdächtig, am 08.06.2006 die Geschädigte S St in der Wohnung seiner Großmutter in der St in B F, wie im Haftbefehl des Landgerichts Mühlhausen vom 06.09.2010 und der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Mühlhausen vom 25.05.2010 näher dargestellt, vergewaltigt und sich so eines Verbrechens nach § 177 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 Ziff. 1 StGB strafbar gemacht zu haben.
Der dringende Tatverdacht ergibt sich insbesondere aus den Angaben der Geschädigten S St zum Geschehen am 08. und 09.06.2006 und wird durch die weiteren in der Anklage der Staatsanwaltschaft Mühlhausen genannten Beweismittel untermauert. So soll der Beschuldigte bei einem Telefongespräch mit der Geschädigten S St, welches die Zeugen N H, D H, N Sp und A St mithörten, auf den Vorwurf der Geschädigten, dass sie beim letzten Treffen vom Angeschuldigten gefesselt, geknebelt und vergewaltigt worden sei, mit den Worten, dass es hierzu nicht noch einmal kommen werde, das Geschehen grundsätzlich eingeräumt haben.
2. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO).
a) Fluchtgefahr liegt vor, wenn die Würdigung aller Umstände des Einzelfalles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich zur Verfügung halten werde.
Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, insbesondere der Art der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat, dessen Persönlichkeit, seiner Lebensverhältnisse, seines Vorlebens und seines Verhaltens vor und nach der Tat. Eine erhebliche Straferwartung kann allein die Fluchtgefahr nicht begründen. Sie ist jedoch Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass sich die Annahme rechtfertigt, der Beschuldigte werde diesem Anreiz wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden. Je größer die Straferwartung ist, desto weniger Gewicht ist auf weitere Umstände zu legen.
Der Angeschuldigte hat wegen der ihm zur Last gelegten Straftat unter Berücksichtigung seiner einschlägigen strafrechtlichen Vorbelastungen mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe und anschießender Sicherungsverwahrung zu rechnen. Die persönlichen Verhältnisse des Angeschuldigten sind auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er eine Lebensgefährtin hat, die von ihm ein Kind erwartet, nicht geeignet, dem sich aus der hohen Straferwartung ergebenden Fluchtanreiz hinreichend entgegenzuwirken.
b) Es besteht darüber hinaus der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gem. § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO.
Der Angeschuldigte soll sich nach § 177 StGB und damit wegen einer Katalogtat nach § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO strafbar gemacht haben. Der Angeschuldigte ist vielfach wegen einschlägiger Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vorbestraft. Dies deutet auf schwere Persönlichkeitsmängel hin, die – zumal in Verbindung mit dem von den Sachverständigen beschriebenen Alkoholmissbrauch - weiterer Taten ähnlicher Art befürchten lassen.
Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist zwar grundsätzlich subsidiär (§ 112a Abs. 2 StPO). Er ist hier aber dennoch als tragender Haftgrund heranzuziehen, weil eine mit Fluchtgefahr begründete Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre (dazu sogleich unter 3.).
3. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles sind die Anordnung der Untersuchungshaft und derzeit auch ihr Fortbestand - noch - verhältnismäßig.
a) Gegen die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft spricht die im Verfahren eingetretene außerordentlich beträchtliche Verfahrensverzögerung, die dem Beschleunigungsgebot nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK widerspricht.
Mit Vorliegen des Gutachtens des Sachverständigen Dr. K vom 22.08.2007 waren die Ermittlungen abgeschlossen. Danach wurden gemäß der staatsanwaltlichen Verfügung vom 03.04.2009 zur Prüfung der Voraussetzungen des § 66 StGB lediglich noch Vorstrafenakten beigezogen, was aber zweifelsfrei bereits zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen wäre. Auch Sachstandsanfragen des Verteidigers und des Angeklagten nahm die Staatsanwaltschaft Mühlhausen nicht zum Anlass, die Sache weiter zu bearbeiten. Erst als sich anlässlich der Beschwerde des Angeschuldigten an den Senat in der Maßregelvollstreckungssache im Verfahren 140 Js 60007/06 abzeichnete, dass der Senat eine Erledigung der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus gem. § 67d Abs. 6 StGB ernsthaft in Betracht zieht, erhob die Staatsanwaltschaft am 16.06.2010 in vorliegender Sache Anklage. Die in der dienstlichen Äußerung der zuständigen Staatsanwältin vertretene Ansicht, es habe im Verfahren 140 Js 60007/06 bis dahin nicht mit einer Erledigungserklärung der Maßregel gerechnet werden können, sodass im Interesse der beschleunigten Durchführung von Haftsachen die vorliegende Sache unbearbeitet blieb, ist unverständlich. Angesichts des Ergebnisses des Gutachtens des Sachverständigen Dr. K in vorliegender Sache, das der Staatsanwaltschaft Mühlhausen seit dem 23.08.2007 bekannt ist, lag die Beiziehung eines weiteren Gutachtens im Maßregelvollstreckungsverfahren und - bei einem entsprechenden Ergebnis der Begutachtung - eine Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB hinsichtlich der Unterbringung keineswegs fern.
Betrachtet man den Verfahrensablauf in hiesiger Sache bis zur Anklageerhebung, ergibt sich, dass bei normaler Bearbeitung das Verfahren im Jahr 2008 ohne weiteres hätte abgeschlossen werden können. Der Vollzug von Untersuchungshaft gegen den Angeklagten wäre, da die Erledigung der Maßregel erst im September 2010 erklärt wurde, bei dieser Sachlage keinesfalls erforderlich geworden. Nun ist die Untersuchungshaft jedoch erforderlich geworden, weil ohne sie zum einen der staatliche Strafanspruch voraussichtlich nicht durchzusetzen wäre, zum anderen die Allgemeinheit weitere schwere Sexualverbrechen zu gewärtigen hätte. Ob dies die Untersuchungshaft trotz der eingetretenen immensen Verfahrensverzögerung rechtfertigt, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, der Zumutbarkeit.
b) Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit sind die mit der Untersuchungshaft zu schützenden Belange gegen die mit ihr verbundenen Beeinträchtigungen des jeweiligen Beschuldigten abzuwägen.
Dabei sind die betroffenen Interessen, Rechte und Rechtsgüter nicht abstrakt einander gegenüber zu stellen und zu gewichten, sondern es sind die konkreten Umstände des Einzelfalles einzubeziehen. Wesentliches Gewicht bei dieser Abwägung haben einerseits das staatliche Bemühen um eine Geringhaltung der Belastung des Beschuldigten, also der Gesichtspunkt der Verfahrensförderung, und andererseits der zeitliche Umfang der Freiheitsentziehung.
aa) Obwohl die Untersuchungshaft im vorliegenden Fall erst seit etwa zweieinhalb Monaten vollzogen wird, wäre weder ihre Anordnung noch gar ihre Fortdauer verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn sie ausschließlich wegen Fluchtgefahr und / oder Verdunkelungsgefahr veranlasst wäre.
Eine auf diese Haftgründe gestützte Untersuchungshaft soll die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens gewährleisten und die eventuelle spätere Strafvollstreckung sichern (BVerfGE 19, 343, 349); Zweck ist also allein die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Dieser Zweck hätte hier ohne jegliche Untersuchungshaft verwirklicht werden können. Das ist nur deshalb nicht geschehen, weil die Strafverfolgungsbehörde das Verfahren in unvertretbarer Weise über Jahre verzögert hat. Die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs vermag die Untersuchungshaft deshalb nicht zu rechtfertigen.
Wie oben ausgeführt besteht aber auch der Haftgrund der Wiederholungsgefahr i.S.d. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO. Die auf ihn gestützte Untersuchungshaft bezweckt den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren massiven Sexualstraftaten des Angeschuldigten. Bei der Abwägung steht dem Grundrecht des Angeschuldigten auf Freiheit der Person somit das ebenfalls mit hohem Verfassungsrang ausgestattete Recht unbestimmt vieler Personen auf sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit gegenüber. Dies führt zwar nicht dazu, dass der Gesichtspunkt der mangelnden Verfahrensförderung unberücksichtigt bleiben könnte, denn anderenfalls würden sich staatliche Versäumnisse bei der Verfahrensförderung stets einseitig zu Lasten des - bis zu einer Verurteilung als unschuldig geltenden - Angeschuldigten auswirken, niemals auch zu Lasten der Allgemeinheit; dafür gäbe es keine Rechtfertigung. Anders als bei einer Abwägung (ausschließlich) zwischen staatlichem Strafanspruch und Freiheit der Person ist es aber auch nicht zu rechtfertigen, vermeidbare erhebliche Verzögerungen im Verfahren stets einseitig zu Lasten der Allgemeinheit gehen zu lassen. Deshalb stehen nach Auffassung des Senats - selbst schwerwiegende - Verfahrensverzögerungen der Anordnung von Untersuchungshaft, die auf Wiederholungsgefahr gestützt wird, nicht schlechthin entgegen. Sie erhöhen allerdings die Anforderungen an die Art und die Intensität der Wiederholungsgefahr (hochrangige Rechtsgüter, hohe Wahrscheinlichkeit erneuter Tatbegehung) und begrenzen die mögliche Dauer der Untersuchungshaft.
bb) Diese Rechtsauffassung steht nach Ansicht des Senats mit der Verfassung und dem Gesetz in Einklang.
Das Grundgesetz in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht gebietet im Zusammenhang mit der Untersuchungshaft die Beachtung des hohen Stellenwertes des Grundrechts auf Freiheit der Person und die strikte Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit und ihre verfahrensmäßige Absicherung. Dem werden die oben dargestellten Grundsätze gerecht.
Die Strafprozessordnung lässt es durch die Regelung des § 112a StPO ausdrücklich zu, Untersuchungshaft wegen bestehender Wiederholungsgefahr anzuordnen. Allerdings räumt sie anderen Haftgründen grundsätzlich Vorrang ein (§ 112a Abs. 2 StPO) und begrenzt die Höchstdauer des Vollzugs eines allein auf Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehls auf ein Jahr, falls bis dahin kein Urteil ergangen ist (§ 122a StPO). Zu der Frage, welche Bedeutung vermeidbare Verfahrensverzögerungen für die Zulässigkeit von Untersuchungshaft, die auf Wiederholungsgefahr gestützt ist, haben, hat sich der Gesetzgeber hingegen nicht eindeutig geäußert.
Mit der Regelung in § 121 Abs. 1 StPO, wonach vor Ergehen eines Urteils der Vollzug von Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nur dann aufrecht erhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen, wird zum Ausdruck gebracht, dass in diesem Fall eine Abwägung des Freiheitsrechts mit den hinter dem Haftgrund stehenden Interessen des Staates oder der Allgemeinheit nicht stattzufinden hat. Mit der gegenüber § 121 Abs. 1 StPO jüngeren Regelung des § 126a Abs. 2 Satz 2 StPO ist der Gesetzgeber von diesem Standpunkt jedoch für die entsprechende Verfahrenslage bei Vollzug der einstweiligen Unterbringung über sechs Monate hinaus abgerückt. Denn dort ist die von dem Untergebrachten ausgehende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit durchaus zu berücksichtigen (siehe etwa Senatsbeschluss vom 04.09.2007, 1 Ws 331/07, bei juris). Da der Gesetzgeber die Einführung des § 126a Abs. 2 Satz 2 StPO nicht zum Anlass einer Angleichung des § 121 Abs. 1 StPO genommen hat, muss es dabei bleiben, dass in dem von § 121 Abs. 1 StPO geregelten Fall (Untersuchungshaftvollzug über sechs Monate vor einem Urteil) eine Wiederholungsgefahr unbeachtlich ist.
Für die Zeit vor Erreichen der Sechs-Monats-Frist lässt das Gesetz nach Ansicht des Senats jedoch Raum für eine um möglichst weitgehenden Rechtsgüterschutz bemühte angemessene Verteilung der sich aus staatlichem Fehlverhalten ergebenden Lasten. Dies geschieht in der Weise, dass auch in Fällen erheblicher vermeidbarer Verfahrensverzögerungen neben der sich aus der Verfahrensverzögerung für den Beschuldigten ergebenden Belastung die Wiederholungsgefahr in die Abwägung einzustellen ist.
cc) Damit setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu dem Beschluss des Kammergerichts vom 10.11.1997 (1 AR 1402/97 – 5 Ws 704/97, bei juris), durch den in einem hinsichtlich der Verfahrensverzögerung vergleichbarem Fall der Haftbefehl aufgehoben wurde.
Denn der dortige Haftbefehl war, soweit ersichtlich, nicht auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, sondern ausschließlich auf den der Fluchtgefahr gestützt.
dd) Die Abwägung führt im vorliegenden Fall dazu, dass dem Schutz der Rechtsgüter der Allgemeinheit Vorrang vor dem Recht des Angeschuldigten auf Freiheit seiner Person gebührt.
Der Grad der Wiederholungsgefahr ist hier als überaus hoch einzuschätzen.
Dies ergibt sich zum einen aus Art, Begehungsweise und Zahl der von dem Angeschuldigten in der Vergangenheit verübten Straftaten. Der Angeschuldigte beging als Jugendlicher im Alter von 16 Jahren erstmals eine Vergewaltigung, deretwegen er durch das Kreisgericht Nordhausen am 20.04.1993 zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und 6 Monaten, zunächst ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt wurde. Wegen im Jahre 1994 begangener Taten der versuchten Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung wurde er am 26.06 1995 durch das Landgericht Erfurt unter Einbeziehung des Urteils des Kreisgerichts Nordhausen zu einer Jugendstrafe von 4 Jahren verurteilt. Schließlich beging er vor dem 22.06.2000 eine sexuelle Nötigung, deretwegen er am 28.12.2000 durch das Amtsgericht Artern unter Einbeziehung einer anderen Strafe zu 9 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Hinzu kamen in den Jahren 2000 und 2001 mehrere Verurteilungen wegen Körperverletzungsdelikten, wobei wegen einer Tat der gefährlichen Körperverletzung durch das vorgenannte Urteil des Amtsgerichts Arten der Ausspruch einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 2 Monaten erfolgte. Der Angeschuldigte wurde am 11.04.2006 - nach Vollzug u.a. der vorgenannten Strafe - aus der Strafhaft entlassen. Er beging am 30.06.2006 die Tat der versuchten schweren sexuellen Nötigung tateinheitlich mit gefährlicher Körperverletzung, die zur Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus durch das Landgericht Erfurt am 01.02.2007 führte. Die dem Angeschuldigten im vorliegend Verfahren zur Last gelegte Tat soll er am 08.06.2006 begangen haben.
Zum anderen spricht für eine signifikant gesteigerte Wiederholungsgefahr die Einschätzung des Sachverständigen Dr. K, es handele sich bei dem Angeschuldigten um einen typisch dissozialen Straftäter mit einer erheblichen Störung der Impulssteuerung. Charakteristisch für diesen Persönlichkeitstyp sind u.a. mangelnde Emphatie und die Unfähigkeit, das eigene Verhalten nach den zu erwartenden Konsequenzen auszurichten.
Die Beziehung des Angeschuldigten zu Frau Hahn ist nicht geeignet, der Wiederholungsgefahr nachhaltig entgegenzuwirken, zumal der Angeschuldigte die hier verfahrensgegenständliche Vergewaltigung an seiner vormaligen Lebensgefährtin, also im Nähebereich, verübt haben soll.
Aber auch die oben beschriebene völlig unzureichende Verfahrensförderung ist außerordentlich gewichtig, dies nicht nur wegen ihres zeitlichen Ausmaßes, sondern auch wegen ihrer Wirkung. Sie hat nicht, wie bei Verfahrensverzögerungen sonst üblich, zu einer Verlängerung der Untersuchungshaft geführt, sondern diese überhaupt erst notwendig gemacht.
Gleichwohl erscheinen dem Senat die Anordnung der Untersuchungshaft und ihre derzeitige Fortdauer noch zumutbar. Ausschlaggebend dafür sind die bisher erst ca. zweieinhalb Monate währende und damit recht kurze Dauer des Vollzugs der Untersuchungshaft und das intensive Bemühen der erkennenden Strafkammer, in kürzester Zeit mit der Hauptverhandlung zu beginnen und zu einem Urteil zu gelangen. Die Sache soll noch im Jahr 2010 verhandelt werden.
Vorsorglich wird allerdings darauf hingewiesen, dass der Haftbefehl mit Sicherheit aufgehoben werden wird, wenn es zur besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO kommen sollte.
4. Der Wiederholungsgefahr kann nicht mit milderen Mitteln als dem Vollzug der Untersuchungshaft entgegengewirkt werden.
Maßnahmen nach § 116 Abs. 3 StPO sind nach Auffassung des Senats nicht geeignet, die Wiederholungsgefahr zu beseitigen. In Anbetracht der aus der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Tat und den Vortaten sprechenden starken Neigung, seine sexuellen Bedürfnisse rücksichtslos zu befriedigen, ist nicht mit einer dem bedrohten Rechtsgut Rechnung tragenden hohen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Angeschuldigte den der Vermeidung neuer Taten dienenden Anweisungen des Gerichts zuverlässig Folge leisten würde.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.-----------------------------------------------------
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