Text des Urteils
4 U 635/10;
Verkündet am:
31.05.2011
OLG Oberlandesgericht
Jena
Vorinstanzen:
3 O 164/05
Landgericht
Gera;
Rechtskräftig: unbekannt!
Evtl. kann Gericht nach § 411 a ZPO von Erhebung eines (eigenen) Sachverständigenbeweises absehen, wenn bereits ein einem früheren – hier staatsanwaltlichen – Verfahren erstattetes Gutachten über dieselben Beweisfragen vorliegt
Leitsatz des Gerichts:
§ 411 a ZPO
1. Zwar kann ein Gericht nach § 411 a ZPO von der Erhebung eines (eigenen) Sachverständigenbeweises absehen, wenn bereits ein einem früheren – hier staatsanwaltlichen – Verfahren erstattetes Gutachten über dieselben Beweisfragen vorliegt.
2. Das erfordert aber, dass der (frühere) Gutachter dem jeweiligen Fachkreis angehört, in dem der behandelnde Arzt tätig geworden ist. Denn im Arzthaftungsprozess hat das Gericht den berufsfachlichen Sorgfaltsmaßstab zu ermitteln, der in dem einschlägigen medizinischen Fachgebiet gilt. Lediglich dann, wenn die zu beurteilenden medizinischen Fragen auch ein benachbartes Fachgebiet betreffen, kann – im Einzelfall – die sachverständige Beurteilung von einem sach- und fachkundigen Facharzt des Nachbargebiets eingeholt werden.
3. Fehlt es an einer entsprechenden fachkundlichen Beurteilung, leidet ein auf das Gutachten eines Rechtsmediziners gestütztes Urteil an einer ausreichenden (tatsächlichen) Entscheidungsgrundlage und unterliegt der Aufhebung; bei entsprechendem Antrag (einer Partei) auch der Zurückverweisung (§ 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
In dem Rechtsstreit
B. H.
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte
gegen
U.klinikum J.
- Beklagter und Berufungsbeklagter -
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt
hat der 4. Zivilsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Müller, Richterin am Oberlandesgericht Billig und Richterin am Landgericht von Schmettau aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10.05.2011 für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 13.07.2010 – Az.: 3 O 164/05 – aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.
Die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens werden niedergeschlagen.
Im Ãœbrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Landgericht vorbehalten.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Als Alleinerbin ihres am 15.06.2004 (im Alter von 66 Jahren) verstorbenen Ehemanns W. H. nimmt die Klägerin (aus ererbtem, aber auch originär eigenem Recht) den Beklagten auf immateriellen und materiellen Schadensersatz in Anspruch.
Der gesundheitlich schwer angeschlagene (u.a. an einer Leberzirrhose, einer chronischen Niereninsuffizienz im Stadium IV, einer Anämie sowie an Diabetis mellitus Typ II leidende) Ehemann der Klägerin (im Weiteren der Verstorbene) wurde nach einem häuslichen Sturz am 15.06.2004 in die Notaufnahme des Beklagten eingeliefert. Noch am gleichen Tag (Abend) wurde die diagnostizierte mediale Schenkelhalsfraktur (Oberschenkelhalsbruch links) in der chirurgischen Klinik (Abteilung für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie) operativ versorgt. Dem Verstorbenen wurde eine zementierte Duokopfprothese implantiert.
Postoperativ wurde der Verstorbene auf der Intensivstation des Beklagten aufgenommen; von dort aus am 17.06.2004 in die Klinik für Innere Medizin II verlegt.
Am 18.06.2004 wurde der Verstorbene von einer Krankenschwester (der Zeugin D. F.) gegen 16.30 Uhr auf dem Boden des Krankenzimmers liegend vorgefunden. Gemeinsam mit dem hinzugerufenen diensthabenden Arzt (dem Zeugen J.) brachte die Krankenschwester den Verstorbenen wieder ins Bett.
Im Laufe des 19.06.2004 klagte der Verstorbene über Schmerzen und eine Bewegungsunfähigkeit des rechten Beines. Im Ergebnis eines unfallchirurgischen Konzils und der deshalb (um 17.00 Uhr) gefertigten Röntgenaufnahme wurde eine Schenkelhalsfraktur am anderen (rechten) Bein, d.h. ein Oberschenkelhalsbruch rechts diagnostiziert.
Zur OP-Vorbereitung (Planung) sollte das (rechte) Hüftgelenk per CT untersucht werden. Die CT-Aufnahme konnte wegen eines Gerätedefekts erst gegen 23.00 Uhr gefertigt werden; sie bestätigte die Röntgendiagnose der medialen dislozierten Schenkelhalsfraktur nun am anderen Bein. Damit war nach Auffassung der behandelnden Ärzte erneut eine Indikation zur Operation gegeben.
Dem Verstorbenen wurde daher am 20.06.2004 nun auch im rechten Hüftgelenk – wieder in der Unfallchirurgie (Abteilung für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie) - eine zementierte Duokopfprothese implantiert.
Beim anschließenden (postoperativen) Aufenthalt auf der Intensivstation kam es am 21.06.2004 zu einer Verschiebung (Luxation) der rechten Hüftkopfprothese, die eine geschlossene Reposition notwendig machte.
Am 23.06.2004 wurde der Verstorbene in die Unfallchirurgie verlegt. Hier musste am 02.07.2004 erneut eine geschlossene Reposition am rechten Hüftgelenk erfolgen, weil sich die Prothese wieder verschoben hatte. Dabei zeigte sich ein Weichteilinterponat zwischen der Prothese und der Hüftpfanne. Deswegen – und wegen der deutlichen Luxationstendenz – erschien den behandelnden Ärzten eine erneute Revisionsoperation angezeigt.
Am 05.07.2004 wurde dem Verstorbenen (wieder in der unfallchirurgischen Klinik des Beklagten) ein sog. XL-langer Hüftkopf in das rechte Hüftgelenk implantiert.
Nach der postoperativ zunächst erfolgten (Rück-)Verlegung auf die Station 6 der Unfallchirurgie musste der Verstorbene wegen einer zunehmenden Atemproblematik auf die Intensivstation verlegt werden; und zwar wegen Bettenmangels in der Chirurgie zunächst in der internistischen Abteilung. Die (Wieder-)Aufnahme auf der chirurgischen Intensivstation erfolgte dann am 07.07.2004.
In der Folge wurde der Zustand des Verstorbenen immer kritischer. Die Beatmung eskalierte zunehmend; schließlich stellte sich auch ein Nierenversagen ein. Am 20.07.2004 verstarb der Ehemann der Klägerin an einem Multiorganversagen.
Die Klägerin macht nun folgende Schadenspositionen geltend:
- ererbtes Schmerzensgeld iHv mind. 40.000 €;
- eigener materieller Schaden in Gesamthöhe von 10.231,11 € (Haushaltsführungsschaden für die Zeit vom 01.08.2004 bis 31.01.2005 iHv 4.334,40 €, Rentenausfallschaden für die Zeit bis zum 31.12.2005 iHv 2.836,80 €, Beerdigungskosten iHv 3.041,91 €);
- Rentenausfall- und Haushaltsführungsrente bis zum Jahr 2019 in monatlicher Höhe von 1.195,20 € (722,40 € für den Haushaltsführungs- und weitere 472,80 € für den Rentenausfallschaden);
- Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige materielle Schäden.
Sie wirft dem Beklagten eine (grob) fehlerhafte, letztlich zum Tode führende Behandlung, daneben aber auch eine fehlerhafte (zunächst nicht hinreichende, später dann ganz und gar unterlassene) Aufklärung des – so ihr Behaupten – nach der ersten Operation vom 15.06.2004 immer verwirrteren und apathischeren, seit dem 18.06.2004 (wegen der Gabe stark sedierender Medikamente) kaum noch ansprechbaren (deliranten) Verstorbenen vor.
Im Detail wirft die Klägerin dem Beklagten folgende Behandlungsfehler vor:
- Die erste Operation vom 15.06.2004 sei wegen der schon extrem angeschlagenen Gesundheit kontraindiziert gewesen; das mit der Operation verbundene erhöhte Letalitätsrisiko für den schon schwerkranken Verstorbenen hätte eine konservative Behandlung als bessere (richtige) Alternative erscheinen lassen müssen.
- Die zur Sturzvermeidung gebotene Ruhigstellung und Sicherung des Verstorbenen nach der ersten Operation sei unterlassen worden; insbesondere sei kein Bettgitter angebracht worden.
- Nach dem Sturz vom 18.06.2004 sei die gebotene rechtzeitige Befunderhebung unterlassen worden; die Röntgen-, bzw. CT-Untersuchung sei zu spät erst am späten Abend des Folgetags durchgeführt worden.
- Am 20.06.2004 sei ein falsches (unpassendes, zu kleines) Implantat (Duokopfprothese) im rechten Hüftgelenk eingesetzt worden; der XL-lange Hüftkopf sei zu spät implantiert worden.
- Nach der Operation vom 20.06.2004 sei die zur Luxationsvermeidung gebotenen Ruhigstellung und Fixierung von Hüfte und Bein unterlassen worden; zudem sei der Verstorbene zur Luxationsvermeidung nur unzureichend überwacht worden.
- In Anbetracht der kritischen Gesamtsituation sei der Verstorbene erheblich zu spät erst am 07.07.2004 auf die chirurgische Intensivstation verlegt worden; die Rückverlegung zunächst auf die „normale“ Station 6 der Unfallchirurgie nach der Operation vom 05.07.2004 sei unverantwortlich gewesen.
Daneben rügt die Klägerin noch folgende Aufklärungsfehler, bzw. –versäumnisse:
- Vor der ersten Operation sei der Verstorbene inhaltlich nur unzureichend aufgeklärt worden; über die ernsthafte Alternative der nur konservativen Behandlung, die den Sturz und dessen letztlich zum Tode führende Folgen vermieden hätte, sei er nicht aufgeklärt worden.
- Im Ergebnis fehle es deshalb an einer wirksamen Einwilligung des Verstorbenen in die Operation vom 15.06.2004.
- An der gebotenen Aufklärung über die Risiken der Folgeoperationen habe es ganz und gar gefehlt; auch hierfür habe es also keine wirksame Einwilligung gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des unstreitigen und streitigen Parteivortrags erster Instanz und der dort gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Mit Urteil vom 13.07.2010 hat das Landgericht die Klage nach umfangreicher – wegen Richterwechsels sogar wiederholter – Zeugenvernehmung zu den streitigen Aufklärungsgesprächen, der ebenfalls streitigen Bettgitterfrage, des Zustands des Verstorbenen nach der ersten Operation (insb. unmittelbar nach dem Sturz vom 18.06.2004) und schließlich der Art und Weise sowie des Ergebnisses der am 18.06.2004 durchgeführten ärztlichen Untersuchungen; daneben aber im Wesentlichen im Ergebnis (in Verwertung) des im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren (Az. der beigezogenen Akte der StA Gera 574 Js 25649/04) eingeholten rechtsmedizinischen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. U. v. 24.07.2006 und dessen im Zivilprozess erfolgten schriftlichen und mündlichen Ergänzungen v. 06.04., bzw. 22.06.2010 abgewiesen.
Die Entscheidungsgründe des Urteils befassen sich zunächst umfangreich und detailliert mit der Frage der streitigen Aufklärungsgespräche, die als – im Ergebnis der Zeugenbefragungen der Ärzte – ordnungsgemäß erfolgt, bzw. – betreffend die Operation vom 20.06.2004 – als (wegen mutmaßlicher Einwilligung des Verstorbenen) nicht erforderlich festgestellt werden. Im Weiteren hat das Landgericht eine fehlerhafte Behandlung des Verstorbenen verneint; hierzu hat es sich auf die – trotz der schon in erster Instanz erhobenen Rüge der diesem fehlenden Sachkunde (vgl. hierzu den Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Klägerin v. 06.07.2009) – Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen gestützt.
Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 21.07.2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 22.07.2010 Berufung eingelegt und diese am 22.11.2010 – innerhalb der bis dahin verlängerten Frist – begründet.
Zentraler Berufungsangriff ist der Vorwurf einer unvollständigen, das rechtliche Gehör verletzenden Tatsachenfeststellung (Beweisaufnahme). Unter Verstoß gegen den im zivilrechtlichen Arzthaftungsprozess herrschenden Grundsatz, die objektiv geschuldete berufsfachliche Sorgfalt (Facharztstandard) mit Hilfe eines Sachverständigen aus dem betreffenden (identischen) medizinischen Fachgebiet zu ermitteln, habe das Landgericht den Sachverhalt nicht erschöpfend aufgeklärt. Die hier entscheidungsrelevanten medizinischen Fragen seien durch Fachärzte auf dem Gebiet der Unfallchirurgie, Orthopädie und Pharmakologie, nicht aber durch einen Rechtsmediziner als Sachverständigen zu beurteilen. Diesem fehle die Sachkunde zur Beurteilung der sich hier stellenden Fragen der (optimalen) Therapiewahl, Befunderhebung und Diagnosestellung, intensivmedizinischen Betreuung etc. schlichtes medizinisches Basiswissen – wie es das Landgericht unterstellt habe – reiche hierfür ebenso wenig aus wie lediglich angelesenes theoretisches Wissen; auf das Facharztwissen des Sachverständigen könne nicht verzichtet werden.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen landgerichtlichen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen, hilfsweise im Fall einer eigenen Sachentscheidung des Senats unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils den Beklagten wie in erster Instanz beantragt im Leistungs- und Feststellungsweg zu verurteilen.
Der Beklagte verteidigt das Urteil des Landgerichts und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
II.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig.
Sie ist statthaft (§ 511 ZPO) und auch im Übrigen in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden; insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben sowie begründet worden (§§ 517, 519, 520 Abs. 2, 3 ZPO).
Auch in der Sache hat die Berufung den – wie von der Klägerin beantragt – zunächst (nur) vorläufigen Erfolg. Das Verfahren des ersten Rechtszuges leidet an einem wesentlichen Mangel, auf dem das Urteil beruht. Für die mit der Berufung angefochtene Klageabweisung fehlt es – jedenfalls derzeit – an einer ausreichenden (tatsächlichen) Entscheidungsgrundlage. Das Landgericht hat eine in mehrfacher Hinsicht noch gar nicht spruchreife Sachentscheidung getroffen. In der Folge des hierin liegenden schwerwiegenden – das rechtliche Gehör der Klägerin verletzenden – Verfahrensmangels wird eine bislang unterbliebene umfängliche Sachaufklärung nachzuholen sein. Dementsprechend ist die Feststellungsrüge der Klägerin begründet; die Zurückverweisungsvoraussetzungen des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO liegen vor.
Zwar kann das Gericht von der Erhebung des (eigenen) Sachverständigenbeweises im Rechtsstreit nach Maßgabe des § 411 a ZPO absehen, wenn ein in einem früheren – hier staatsanwaltschaftlichen – Verfahren erstattetes (schriftliches) Gutachten über dieselbe Beweisfrage vorliegt. So hat hier das Landgericht agiert und unter dem 20.02.2009 die Verwertung des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. U. aus dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Gera, Zweigstelle Jena (Az.: 574 Js 25649/04) beschlossen.
Ob sich die – im Zivilprozess schriftlich wie mündlich ergänzten – Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. U. mit allen hier anstehenden Beweisfragen befassen, kann letztlich dahin stehen. Läge der Mangel der ungenügenden Tatsachenfeststellung nur hierin, ließe sich das Problem mit einer weiteren Anhörung oder auch einer schriftlichen Ergänzung der bisherigen Ausführungen des Sachverständigen beheben. So einfach liegt die Sache aber nicht. Vielmehr muss – was die Berufung zu Recht geltend macht – ein neues Gutachten eines anderen Sachverständigen; nämlich eines klinisch erfahrenen Facharztes für chirurgische Orthopädie (Unfallchirurgie) eingeholt werden.
Wenn die Feststellungen und Erkenntnisse in dem aus einem anderen Verfahren stammenden (früheren) Gutachten nicht erschöpfend oder lückenhaft sind, sie auf unrichtigen oder unvollständigen tatsächlichen Grundlagen beruhen oder wenn Zweifel an der Sachkunde des Verfassers des früheren Gutachtens bestehen, muss der Tatrichter einen anderen (geeigneten) Sachverständigen hinzuziehen (BGH MDR 2008, 222; 1987, 1018; VersR 1997, 1158; OLG Köln NJW-RR 1999, 675; KG VersR 2004, 350).
Diese Grundsätze zum Sachverständigenbeweis gelten (natürlich) auch im Arzthaftungsprozess; wenn auch mit der Besonderheit, dass hier an die Sachkunde des Sachverständigen besonders hohe Anforderungen zu stellen sind; und zwar vor folgendem dogmatischen Hintergrund:
Der Sorgfaltsmaßstab des Arzthaftungsrechts orientiert sich an der Aufgabe, Qualitätsmängel gegenüber dem anerkannten und gesicherten Stand der ärztlichen Wissenschaft im Zeitpunkt der Behandlung haftungsrechtlich zu sanktionieren (BGH NJW 1983, 2080; OLG Hamm NJW 2000, 1801; OLG Düsseldorf VersR 1996, 755). Dementsprechend ist der Sorgfaltsmaßstab objektiv typisierend bestimmt und nicht subjektiv individuell. Es kommt auf die im jeweiligen Fachkreis des Arztes zu fordernde (objektive) Sorgfalt – einschließlich der vorauszusetzenden allgemeinen Kenntnisse – und nicht auf die (möglicherweise) dahinter zurückbleibenden subjektiven individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse an (BGH NJW 1999, 1779; 1998, 814; 1994, 1596; 1991, 1535; 1985, 2650). Der Facharzt in der ambulanten wie in der stationären Krankenbetreuung wird am objektiven Facharzt-Standard gemessen(BGH NJW 1996, 779; 1987, 1479). Krankenhäuser – wie hier die Beklagte – haben für ihre Eigenhaftung grundsätzlich den Facharztstandard vorzuhalten (BGH NJW 1998, 2736; 1994, 3008; 1993, 2989; 1992, 1560; OLG Braunschweig NJW-RR 2000, 238; OLG Oldenburg NJW-RR 1999, 1327).
Muss der Arzt also diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus (objektiver) berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs vorausgesetzt und erwartet werden, ist die zivilrechtliche Haftungsfrage, ob ein Arzt seine berufsspezifische Sorgfaltspflicht verletzt hat, in erster Linie eine Frage, die sich nach medizinischen Maßstäben richtet. Deshalb hat der Tatrichter den berufsfachlichen Sorgfaltsmaßstab mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen zu ermitteln; das Gericht darf sich regelmäßig nicht darauf beschränken, statt eines Sachverständigen sachverständige Zeugen zu hören (OLG Koblenz MedR 2005, 473). Der notwendige Sachverständigenbeweis ist auch ohne Parteiantrag zu erheben. Denn das Gericht hat im Arzthaftungsprozess von Amts wegen auf eine umfassende und genaue Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hinzuwirken (BGH VersR 1982, 168).
Ãœbertragen auf den Entscheidungsfall bedeutet das folgendes:
Das Landgericht musste den von der Klägerin erhobenen Behandlungsfehlervorwürfen, aber auch – wenn auch nur in zweiter Linie – den Anwürfen des Aufklärungsversäumnisses (in Bezug auf Behandlungsalternativen und –risiken) mittels des notwenigen Sachverständigenbeweises nachgehen; die umfangreiche Zeugenvernehmung des ärztlichen Personals der Beklagten konnte den Sachverständigen keinesfalls ersetzen.
Wegen des hier als Soll-Standard zu ermittelnden objektiven Facharztstandards des (orthopädisch kundigen) Unfallchirurgen musste aber zwingend ein (klinisch erfahrener) Sachverständiger aus demselben (einschlägigen) Fachgebiet hinzugezogen werden. Dass der Sachverständige grundsätzlich aus dem einschlägigen medizinischen Fachgebiet des beklagten Arztes auszuwählen ist, entspricht einem seit Jahren feststehenden Konsens in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Obergerichte (BGH NJW 1987, 2300; OLG Hamm ZMGR 2006, 110; VersR 2002, 613; 2001, 249; 1995, 967; OLG München OLGR 2006, 94; OLG Naumburg OLGR 2005, 900; NJW-RR 2004, 96; KG ZMGR 2005, 158). Dementsprechend wurde z.B. bereits mehrfach entschieden, dass die Frage, ob einem Orthopäden ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, uneingeschränkt der Bewertung durch den orthopädischen Sachverständigen unterliegt (OLG München aaO; OLG Hamm OLGR 2002, 271; VersR 1995, 967).
Lediglich dann, wenn die zu beurteilende medizinische Frage (auch) in ein „benachbartes“ medizinisches Fachgebiet fällt, kann die sachverständige Beurteilung auch von einem – gleichermaßen sach- und fachkundigen – Facharzt des Nachbargebietes eingeholt werden (z.B. Orthopädie – Neurochirurgie bei einer Bandscheibenoperation; Orthopäde – Unfallchirurg, wenn es um den Vorwurf einer übersehenen, bzw. fehlerhaft behandelten Schultereckgelenkssprengung geht; OLG München OLGR 2006, 94; OLG Düsseldorf OLGR 2006, 112). Auch so liegt die Sache hier aber nicht. Der in der chirurgischen Orthopädie klinisch gänzlich unerfahrene Rechtsmediziner verfügt nicht einmal (zumindest) über eine hinreichendes „Nachbarsachkunde“, um Fragen zum Facharztstandard in der Behandlung von (komplizierten) Oberschenkelhalsfrakturen beantworten zu können.
Auf die hier im Raum stehenden – nach ihrer Chronologie geordneten – (möglichen) Behandlungsfehler übertragen, ergibt sich damit – wegen des bislang lediglich vorliegenden ungenügenden (falschen) rechtsmedizinischen Gutachtens - folgender Aufklärungsbedarf.
1. Behandlungsfehler im Vorfeld der ersten Operation vom 15.06.2004 (Implantierung einer zementierten Duokopfprothese in der linken Hüfte)
Die von der Klägerin – unter besonderer Berücksichtigung des angeschlagenen Gesundheitszustandes eines Alkoholkranken mit Leber- und Nierenschäden etc. – aufgeworfene Frage nach dem Fehler in der Therapiewahl; nämlich die Frage, ob die konservative Behandlung des ersten Oberschenkelhalsbruchs die richtige (bessere sog. Goldstandard-) Behandlungsalternative gewesen wäre, kann nur ein orthopädisch tätiger Unfallchirurg beantworten; ein dementsprechender (neuer) Gutachterauftrag zur Therapiewahl bezogen auf den ersten Bruch am linken Oberschenkel ist also an einen orthopädisch-unfallchirurgischen Sachverständigen zu erteilen.
2. Ungenügende (Sturz-)Sicherung des Verstorbenen nach der ersten Operation
Hier erachtet der Senat die – wenn auch im Urteil nicht näher begründete – Beweiswürdigung des Landgerichts, das Bett des Verstorbenen sei bereits vor dem Sturz vom 18.06.2004 mit einem Bettgitter gesichert gewesen, mit der Folge für fehlerfrei und gut vertretbar, dass insoweit Bindungswirkung nach §§ 529, 531 ZPO eintritt. Einer (nochmaligen) Wiederholung der umfangreichen Zeugenvernehmung zu der streitigen Bettgitterfrage bedarf es mithin nicht.
Offen geblieben ist aber die Frage, ob der Beklagte – wie die Berufungsbegründung näher ausführt – wegen des schlechten Allgemeinzustandes in Verbindung mit der (aus der Aussage des Zeugen Dr. H. folgenden) Medikamentengabe (Antiepileptikum und Schlafmittel) das Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen so weit herabgesetzt war, dass eine stärkere Sicherung oder gar – wie es die Berufungsbegründung formuliert – „ständige Überwachung“ des Verstorbenen erforderlich war. Ob das – wie es der Rechtsmediziner gesehen hat – tatsächlich fernliegt oder gar abwegig ist, muss durch einen „richtigen“ Sachverständigen abgeklärt werden. Auch hier sollte ein unfallchirurgisches Gutachten zunächst ausreichen; ob es daneben der Hinzuziehung von besonderer pharmakologischer oder intensivmedizinischer Sachkunde bedarf, bleibt dem Ergebnis des primär einzuholenden orthopädisch-unfallchirurgischen Sachverständigengutachtens vorbehalten.
3. Unterlassene (zu späte) Befunderhebung nach dem Sturz vom 18.06.2004
Bei dieser Behandlungsfehlerrüge ist mehrstufig vorzugehen. Zunächst muss ein unfallchirurgischer /orthopädischer Sachverständiger die in der Patientendokumentation (Anlage B7, I/95) festgehaltene klinische Untersuchung des Verstorbenen durch den Zeugen J. (von der das Sturzereignis feststellenden Schwester herbeigerufener diensthabender Assistenzarztes) bewerten. Der Sachverständige muss der Frage nachgehen, ob es schon am 18.06.2004 Bedarf für eine diagnostische Abklärung durch bildgebende Verfahren gegeben hat und wenn er das bejaht, weiter dazu Stellung nehmen, ob, und wenn ja welche (positiven) Auswirkungen das gehabt hätte (Besserer Heilungsverlauf ohne Luxationskomplikation? Weniger Schmerzen bei schnellerer Behandlung?)
Auf der zweiten Stufe ist – ebenfalls durch ein orthopädisch-unfallchirurgisches Sachverständigengutachten – zu klären, ob es im Lauf des 19.06.2004 nicht hinnehmbare (standardwidrige) Verzögerungen in der Befunderhebung gab. Festzustellen gilt es insbesondere, ob dem Beklagten – als Organisationsverschulden – vorzuwerfen ist, dass eine CT-Aufnahme (wegen eines Gerätedefekts) erst am späten Abend (gegen 23.00 Uhr) möglich war. Vom Sachverständigen zu beantworten ist also die Frage, ob ein Klinikbetrieb wie die Beklagte (im Jahr 2004) stets ein CT-Gerät in funktionsfähigem Zustand vorrätig zu halten hatte. Diese Frage ist bislang noch gar nicht beleuchtet worden.
4. Wahl eines falschen Implantats für die rechte Hüfte am 20.06.2004
Die hiermit aufgeworfene Frage der fehlerhaften Therapiemethode; insbesondere danach, ob der sog. XL-lange Hüftkopf gleich hätte implantiert werden müssen, kann nur ein orthopädischer Unfallchirurg sachkundig beantworten.
5.Unterlassene Ruhigstellung / Fixierung von Bein und Hüfte nach der Operation vom 20.06.2004
Die Frage nach fehlerhaft unterlassenen Maßnahmen zur Luxationsvermeidung ist ebenfalls zwingend durch ein orthopädisch-unfallchirurgisches Sachverständigengutachten zu klären.
6. Zu späte intensivmedizinische Behandlung nach der dritten Implantatsoperation vom 05.07.2004
Hier ist ein interdisziplinäres Vorgehen angezeigt und über den zunächst gefragten orthopädisch-unfallchirurgischen Sachverstand – gerade mit Blick auf die Kausalitätsfrage – hinaus auch spezielles intensivmedizinisches Fachwissen verlangt.
Neben dem damit abgestecktem Feststellungsrahmen für ein möglicherweise fehlerhaftes Behandlungsgeschehen sind die dem Beklagten im Weiteren vorgeworfenen Aufklärungsversäumnisse zwar nur von untergeordneter Bedeutung. Auch hier besteht aber derzeit noch keine Entscheidungsreife.
Dass der Verstorbene vor der ersten Operation (v. 15.06.2004) aufgeklärt wurde; und zwar auch über die Risiken des Eingriffs hat das Landgericht in gut vertretbarer (auch ausführlich dargestellter) Beweiswürdigung festgestellt. Insoweit bleibt es also bei der (bindenden) landgerichtliche Tatsachenfeststellung.
Im Ergebnis der Aussage des Zeugen Prof. L. ist aber die Frage offen geblieben, ob – als echte Behandlungsalternative – auch über die konservative Behandlung aufzuklären gewesen wäre. Dass der Zeuge tatsächlich auch hierüber aufgeklärt hat, lässt sich seiner Aussage nicht entnehmen; vielmehr liest diese sich so, als habe der Zeuge nicht über die konservative Behandlung aufgeklärt, weil sie für ihn „nicht ernsthaft in Betracht kam“. Das zunächst einmal unterstellt, ist die orthopädisch-unfallchirurgische Fachkenntnis eines Sachverständigen gefragt. Die Frage nach den Behandlungsalternativen muss ohnehin (vgl. Behandlungsfehlervorwurf Nr. 1) geklärt werden. Sollte die konservative Behandlung eine echte Behandlungsalternative gewesen sein, müsste der Zeuge L. noch einmal vernommen und so festgestellt werden, ob er umfassend aufgeklärt hat oder nicht.
Was schließlich den Vorwurf der bei den Operationen an rechter Hüfte und Bein (ab dem 20.06.2004) nicht geleisteten, bzw. vom (verwirrten, deliranten) Verstorbenen nicht mehr verstandenen Aufklärung anbelangt, gibt es gegen die Argumentation des Landgerichts von der zumindest mutmaßlichen Einwilligung nichts zu erinnern; allerdings nur unter der Prämisse, dass es sich hier jeweils um zwingend notwendige – und zwar schnell notwendige – Operationen gehandelt hat. Auch diese Frage ist also einem unfallchirurgischen / orthopädischen Sachverständigen zu stellen. Dass jeweils umfangreiche Aufklärungsgespräche mit den Angehörigen (der Klägerin und ihren beiden Kindern) stattgefunden haben, vermag nämlich die (aus Selbstbestimmungsgründen) erforderliche Aufklärung des Verstorbenen selbst nicht zu ersetzen; ein Betreuer für ihn ist unstreitig erst am 09.07.2004, d.h. nach der letzten Operation vom 05.07.2004 bestellt worden.
Unabhängig davon ist bei dem zweiten Aufklärungsfehlervorwurf der Klägerin natürlich (auch) die Schadenskausalität problematisch. Worin soll der durch eine unterlassene Aufklärung herbeigeführte ersatzfähige Schaden liegen? Selbst wenn die Eingriffe ohne wirksame Einwilligung – und damit rechtswidrig – erfolgt sein sollten, rechtfertigt allein das noch kein – in der Person des Verstorbenen entstandenes, auf die Klägerin übergegangenes – Schmerzensgeld (vgl. hierzu die Zitate bei Geiß/Greiner, 5. Aufl., S. 271, Rdnr. 150). Für den Tod des Verstorbenen (als Primärschaden und damit in der Folge für die von der Klägerin geltend gemachten materiellen Schadenspositionen) ist eine möglicherweise unterbliebene / unwirksame (weil vom Verstorbenen erkennbar unverstandene) Aufklärung jedenfalls dann nicht ursächlich geworden, wenn es sich um notwendige Operationen gehandelt hat, in die der Verstorbene mutmaßlich eingewilligt hätte.
Lassen sich damit – bis auf die wenigen aufgezeigten Ausnahmen – alle im Tatsächlichen relevante Fragen ohne ein neues (richtiges) orthopädisch-unfallchirurgisches Sachverständigengutachten nicht beantworten und ist zudem noch dessen intensivmedizinische, möglicherweise auch pharmakologische Ergänzung sowie unter Umständen auch eine Nachvernehmung des Zeugen Prof. L. angezeigt, steht die Sachdienlichkeit der Zurückverweisung an das Landgericht außer Frage. Wegen des bislang in nahezu allen Punkten ungeklärt gebliebenen entscheidungserheblichen Sachverhalts kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Interesse der Parteien an einer schnelleren Erledigung gegenüber dem Verlust der Tatsacheninstanz überwiegt. Im Gegenteil haben beide Parteien, insbesondere aber die den Zurückverweisungsantrag nach § 538 Abs. 2 ZPO als Hauptantrag stellende Klägerin zu erkennen gegeben, an einer nun vollständigen Tatsachenfeststellung in erster Instanz interessiert zu sein.
III.
Die Entscheidung über die Nichterhebung von Gerichtskosten für das Berufungsverfahren beruht auf § 21 GKG.
Im Ãœbrigen war die Kostenentscheidung dem Landgericht vorzubehalten.
Die Vollstreckbarerklärung folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO (vgl. hierzu Wieczorek/Schütze-Gerken, ZPO, 3. Aufl., § 538 Rn. 70).
Für eine Revisionszulassung besteht keine Veranlassung.
Die Voraussetzungen hierfür (vgl. § 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung; neue Rechtsfragen wirft der vorliegende Fall nicht auf. Zu klären ist allein der tatsächliche Sachverhalt und dessen Bewertung unter Anwendung bereits geklärter Rechts- und Beweisregeln. Das vorliegende Berufungsurteil weicht nicht von höchstrichterlicher oder anderer obergerichtlicher Rechtsprechung ab. Eine Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung steht nicht an, weshalb es keiner Entscheidung des Revisionsgerichts bedarf. Auch die Zurückweisungsentscheidung beruht im Wesentlichen auf der Würdigung von Einzelfallgesichtspunkten.
(Müller) (Billig) (von Schmettau)-----------------------------------------------------
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