Text des Beschlusses
2 Ws (Reh) 96/11;
Verkündet am:
14.04.2011
OLG Oberlandesgericht
Naumburg
Vorinstanzen:
12 Reh 10101/10
Landgericht
Halle;
Rechtskräftig: unbekannt!
Mit dem Vierten Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR vom 2. Dezember 2010 wird der freiheitsentziehende Charakter der Heimerziehung in der ehemaligen DDR unterstellt
Leitsatz des Gerichts:
1. Mit dem Vierten Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR vom 2. Dezember 2010 wird der freiheitsentziehende Charakter der Heimerziehung in der ehemaligen DDR unterstellt. Für die Rehabilitierung des Untergebrachten kommt es nur noch auf die Feststellung einer politischen Verfolgung oder sonst sachfremder Zwecke an.
2. Ergab sich die Heimerziehung als Konsequenz aus der politisch motivierten Inhaftierung der Eltern, diente sie der politischen Verfolgung.
3. Zur Aufhebung einer mit dem Referat Jugendhilfe der ehemaligen DDR geschlossenen Erziehungsvereinbarung.
In dem Rehabilitierungsverfahren
…
Betroffene, Antragstellerin und Beschwerdeführerin,
hat der Senat für Rehabilitierungssachen des Oberlandesgerichts Naumburg am 14. April 2011 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Henss, des Richters am Oberlandesgericht Krause sowie des Richters am Oberlandesgericht Becker beschlossen:
Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der Kammer für Rehabilitierungssachen des Landgerichts Halle vom 24. Februar 2011 aufgehoben.
Die vorläufige Verfügung des Leiters des Referats Jugendhilfe des Rates der Stadt H. vom 18. April 1988 sowie die Erziehungsvereinbarung des Referats Jugendhilfe des Rates der Stadt H. mit der Mutter der Betroffenen, Frau B. G. , vom 5. Mai 1988 mit der Folge der Heimerziehung der Betroffenen werden für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben.
Die zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung der Betroffenen dauerte vom 18. April 1988 bis zum 20. April 1989.
Kosten des Verfahrens werden nicht erhoben. Die notwendigen Auslagen der Betroffenen trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
Am 17. April 1988 wurde die Mutter der Betroffenen von den Grenztruppen der DDR im Grenzgebiet zur Bundesrepublik festgehalten, nachdem sie erfolglos versucht hatte, die DDR unter Ãœberwindung der Grenzsicherungsanlagen zu verlassen.
Bei sich hatte Frau B. G. ihre zwei Töchter, zu denen die damals dreijährige Betroffene gehörte. Am 18. April 1988 um 3.30 Uhr wurde die Betroffene durch die Polizei einem Kinderheim übergeben. Hiervon unterrichtete man am gleichen Tag das zuständige Referat Jugendhilfe des Rates der Stadt H. , dessen Leiter mit vorläufiger Verfügung gemäß § 50 FGB/DDR die Heimerziehung der Betroffenen anordnete.
Die Mutter der Betroffenen geriet in Untersuchungshaft. Nach den aufgefundenen Jugendhilfevorgängen schlossen sie und der Leiter des Referats Jugendhilfe am 5. Mai 1988 eine Erziehungsvereinbarung über die Heimunterbringung der Betroffenen und ihrer Schwester. Beide Mädchen gelangten in das Kinderheim „E. “ in B. , von wo sie zum 20. April 1989 zur Mutter entlassen wurden.
Das Kreisgericht Halle-Neustadt verurteilte die Mutter der Betroffenen am 30. Juni 1988 wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten. Durch Beschluss des Bezirksgerichts Halle vom 23. Juni 1992 wurde die Mutter rehabilitiert.
Mit Antragsschrift vom 12. Juli 2010 begehrt die Betroffene ihre Rehabilitierung wegen des Heimaufenthalts. Das Landgericht Halle hat das Gesuch mit Beschluss vom 24. Februar 2011 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, zwar sei die Mutter der Betroffenen Opfer politischer Verfolgung geworden. Gleichwohl sei die Anordnung der Heimerziehung Ausdruck staatlicher Fürsorge. Zumindest sei die Betroffene im Kinderheim keinen haftähnlichen Bedingungen ausgesetzt gewesen. Die Heimerziehung führe in der Regel nur zu von Kindern hinzunehmenden Freiheitsbeschränkungen und nicht zur Entziehung der Freiheit.
Gegen diese, ihr am 2. März 2011 zugestellte Entscheidung wendet sich die Betroffene mit der am 21. März 2011 beim Landgericht eingegangenen Beschwerde. Die Heimerziehung gehe auf die politische Verfolgung der Mutter zurück. Sie sei daher offenkundig rechtswidrig. Außerdem zweifelt die Betroffene das Bestehen einer Erziehungsvereinbarung an.
Die Mutter der Betroffenen erklärt in diesem Zusammenhang, sich an keine Erziehungsvereinbarung erinnern zu können. Sie habe damals keine Entscheidungsmöglichkeit in Bezug auf ihre Kinder mehr besessen. Die Betreuung der Mädchen hätten Verwandte oder der leibliche, von ihr geschiedene Vater übernehmen können. Sie mutmaßt eine Einflussnahme des Ministeriums für Staatssicherheit.
II.
Die gemäß §§ 13 Abs. 1, 15 StrRehaG; §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
Sie führt nach § 15 StrRehaG und § 309 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Rehabilitierung der Betroffenen (§§ 2 Abs. 1, 1 Abs. 1, 12 StrRehaG). Die auf die Heimerziehung der Betroffenen gerichtete vorläufige Verfügung des Leiters des Referats Jugendhilfe und die mit gleichem Ziel geschlossene Erziehungsvereinbarung sind mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar, weil sie der politischen Verfolgung dienten (§§ 2 Abs. 1 Satz 2, 1 Abs. 1 Nr. 1 Bst. e) StrRehaG).
1. Das Landgericht stützt seine ablehnende Entscheidung auf die konkrete Unterbringungssituation der Betroffenen in einem normalen Kinderheim.
Damit sei keine Freiheitsentziehung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StrRehaG angeordnet. Dies entspricht der bisher ständigen Rechtsprechung des Senats, welche sich mit der jüngsten Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes allerdings nicht mehr aufrechterhalten lässt. Für die Rehabilitierung wegen der Unterbringung in einem Heim für Kinder und Jugendliche kommt es allein noch auf die Feststellung der politischen Verfolgung oder sonst sachfremder Zwecke an (vgl. BR-Drs.: 92/93 S. 149; Pfister/Mütze, StrRehaG, § 2 Rdn. 26).
Mit dem Vierten Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR vom 2. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1744) wurde auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG zur gesetzlichen Klarstellung und zur Gewährleistung einer einheitlichen Anwendungspraxis (vgl. BT-Drs.: 17/3233 S. 7) dahingehend geändert, dass insbesondere auch die Anordnung einer Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche, die der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, eine entsprechende Anwendung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG eröffnet. Bei den in § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG aufgeführten Fällen handelt es sich um Regelbeispiele, die die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 StrRehaG erfüllen, wenn sie der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken dienten (BR-Drs.: 92/93 a.a.O.; Pfister/Mütze, § 2 Rdn. 28). Damit wird nunmehr der freiheitsentziehende Charakter auch der Heimerziehung in der DDR gesetzlich unterstellt, womit nicht mehr zu prüfen ist, ob sich die Unterbringung im Konkreten zumindest unter haftähnlichen Bedingungen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StrRehaG vollzog.
2. Die Heimerziehung der Betroffenen diente der politischen Verfolgung.
Sie war gewollter Bestandteil politisch motivierter Strafverfolgung der Mutter. Ihr letzter Zweck muss sie nicht gewesen sein.
Erfolgte die Unterbringung in einem Heim als Reaktion auf den Versuch, die DDR zu verlassen, diente diese Maßnahme der politischen Verfolgung (OLG Jena, Beschluss vom 21. Juli 2008, 1 Ws-Reha 10/08). Allerdings war es nicht die damals dreijährige Betroffene, die versuchte, die Grenze der DDR zu überwinden, sondern ihre Mutter. Die Betroffene gelangte auch nicht deshalb in ein Heim, weil die Mutter bei dem gescheiterten Versuch ihre Kinder bei sich hatte. Die Jugendhilfe wurde aufgrund der sich aus der Inhaftierung der Mutter ergebenden ungeklärten Betreuungssituation der Kinder tätig. In solchen Fällen hat das Kammergericht bisher entschieden, dass derart mittelbare Auswirkungen nicht zur Rehabilitierung der Kinder wegen des erlittenen Heimaufenthalts führen könnten und das Kind selbst keiner politischen Verfolgung, sondern einer nicht sachfremden staatlichen Fürsorgemaßnahme ausgesetzt gewesen sei (KG VIZ 1997, 663; Beschluss vom 9. September 2010, 2 Ws 351/09 REHA). Dem vermag sich der Senat nach der angesprochenen Rechtsänderung nicht mehr anzuschließen. Diese Sicht der staatlichen Einflussnahme auf die Unterbringung der Betroffenen ist zu eng.
Die Unterbringung von Kindern oder Jugendlichen in Heimen der DDR forderte im Hinblick auf die Vorschriften des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes bisher eine differenzierte Betrachtung des Einzelfalls. Nicht in jedem Heim herrschten Bedingungen, die es rechtfertigten, von einer Freiheitsentziehung oder von haftähnlichen Bedingungen auszugehen (vgl. bspw. Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2010, 2 Ws Reh 8/10). Der Gesetzgeber hat nunmehr in § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG zum Ausdruck gebracht, diese Einzelfallbetrachtung nicht zu billigen, sondern jede Heimerziehung als Freiheitsentziehung zu behandeln. Das ist ein deutlicher Hinweis auf eine beabsichtigte großzügige Handhabung des § 2 StrRehaG.
Billigt der Gesetzgeber der Betroffenen und allen anderen Heimkindern zu, Opfer einer Freiheitsentziehung geworden zu sein, ist nicht anzunehmen, die sachfremde Zwecksetzung der Heimerziehung solle allein in Bezug auf die Person des Kindes beurteilt werden. Für eine derart restriktive Sicht gibt zunächst der Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG nichts her. Danach muss die Heimunterbringung der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient haben. Es geht also um die Unterbringung selbst und nicht die Person des unmittelbar Untergebrachten.
Die Unterbringung im Heim für Kinder wird regelmäßig Folge der politischen Verfolgung der Eltern gewesen sein. Es ist kaum vorstellbar, dass Kinder in der DDR selbst Opfer politischer Verfolgung und als solche in einem Kinderheim untergebracht wurden. Verfolgt wurden die Eltern und zwar mit Konsequenzen für die Kinder. Würde es für die sachfremde Zwecksetzung der Heimunterbringung dennoch nur auf die Person des Kindes ankommen, liefe die gesetzliche Regelung fast leer. Das kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben. Wurde von ihm die politische Verfolgung als Zweck einer Unterbringung im Kinderheim in Betracht gezogen, spricht dies für die Regelung gerade des vorliegenden Sachverhalts, also der Unterbringung der Kinder in einem Heim im Zusammenhang mit der politisch motivierten Inhaftierung der Eltern.
Diese typische Situation, auf die § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG hinweist, muss das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz erfassen, um seinem Zweck zu genügen. Es geht um Wiedergutmachung staatlichen Unrechts in der DDR. Dieses staatliche Unrecht erstreckte sich hier nicht nur auf die Mutter der Betroffenen. Auch die Kinder wurden in gleichem Zusammenhang Opfer einer Freiheitsentziehung. Die sonach eine ganze Familie erfassende politische Verfolgung ist nicht teilbar in unmittelbares und mittelbares Unrecht. Die sich für die Kinder aus der politischen Verfolgung der Eltern ergebenden Konsequenzen sind nicht weniger wiedergutmachungswürdig. Das Zwischentreten der DDR-Jungendhilfe lässt die Heimunterbringung der Kinder nicht nur als unbeabsichtigten Reflex der elterlichen Inhaftierung erscheinen. Die politische Verfolgung der Eltern kalkulierte die Betreuungslosigkeit der Kinder ein, nutzte diese teilweise sogar aus oder nahm sie als Nebenfolge zumindest billigend in Kauf.
3. Für die Anwendung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes auf die Heimunterbringung der Betroffenen kommt es nicht darauf an, ob die Heimerziehung gemäß § 23 Abs. 1 Bst. f) JHVO/DDR angeordnet oder im Wege einer Erziehungsvereinbarung geregelt wurde.
Die Erziehungsvereinbarung ist hier der Anordnung der Jugendhilfeorgane der DDR gleichzusetzen.
Wie sich aus den Unterlagen der Jugendhilfe des Rates der Stadt H. ergibt, wurde die Vereinbarung vom 5. Mai 1988 im Zusammenhang mit dem Aufsuchen der Mutter der Betroffenen in der Untersuchungshaft geschlossen. In einer solchen Situation ist ein Sorgeberechtigter kaum in der Lage, sich der Forderung der Jugendhilfe auf Verbleiben der Kinder in der Heimerziehung zu widersetzen. Abgesehen von der psychischen Belastung, die mit der Haft verbunden war, musste die Mutter der Betroffenen nachteilige Folgen für das Strafverfahren befürchten, da jede Weigerung, die Kinder im Heim zu belassen, als Misstrauen gegenüber dem Staat hätte interpretiert werden können. Außerdem gab es für die Inhaftierte keine andere Alternative. Hätte die Mutter der Betroffenen die Erziehungsvereinbarung nicht unterzeichnet, wäre gemäß § 50 FGB/DDR in Verbindung mit § 23 Abs. 1 Bst. f) JHVO/DDR die Heimerziehung angeordnet worden. Die Erziehungsvereinbarung war an die Voraussetzungen des § 50 FGB/DDR gebunden und hatte für die Mutter noch den Vorteil, die Dauer des Heimaufenthalts möglicherweise beeinflussen zu können (Lehrbuch Familienrecht der DDR S. 186).
4. Die gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 3 StrRehaG festzustellende Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung folgt aus den Heimunterlagen der Betroffenen.
5. Die Sache ist nicht gemäß § 13 Abs. 4 StrRehaG und § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vorzulegen.
Der Senat weicht mit seiner Rechtsauffassung nicht in entscheidungserheblicher Weise von den oben zitierten Entscheidungen des Kammergerichts ab. Das Kammergericht hat noch auf der Grundlage des alten Rechts entschieden.
III.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung ergibt sich aus § 14 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 StrRehaG.
Bei erfolgreicher Beschwerde trägt mangels eines anderen Kostenschuldners die Staatskasse die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 473 Rdn. 2).
gez. Henss gez. Becker gez. Krause-----------------------------------------------------
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