Text des Beschlusses
1 W 57/10;
Verkündet am:
10.12.2010
OLG Oberlandesgericht
Naumburg
Vorinstanzen:
9 O 1177/10
Landgericht
Magdeburg;
Rechtskräftig: unbekannt!
Immaterieller Schaden besteht nicht nur in körperlichen und seelischen Schmerzen als Reaktion auf die Verletzung des Körpers oder die Beschädigung der Gesundheit
Leitsatz des Gerichts:
Ein immaterieller Schaden besteht nicht nur in körperlichen und seelischen Schmerzen als Reaktion auf die Verletzung des Körpers oder die Beschädigung der Gesundheit. In Fällen schwerster Schädigung kann eine ausgleichspflichtige immaterielle Beeinträchtigung gerade darin liegen, dass die Persönlichkeit ganz oder weitgehend zerstört ist. Es handelt sich insoweit um eine eigenständige Fallgruppe, bei der die Einbuße der Persönlichkeit bzw. der Wegfall der Basis für ihre Entfaltung durch den Verlust der Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit im Vordergrund steht und deshalb auch bei der Bemessung der Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB einer eigenständigen Bewertung zugeführt werden muss.
In der Beschwerdesache
…
hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Zettel, den Richter am Oberlandesgericht Dr. Tiemann und die Richterin am Oberlandesgericht Göbel am 10. Dezember 2010 gemäß § 127 Abs. 1 S. 1 ZPO beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der 09. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg vom 21. September 2010 teilweise abgeändert und der Antragstellerin – über die bereits durch das Landgericht zuerkannte Prozesskostenhilfe hinaus – für den ersten Rechtszug zum Klageantrag zu 2) Prozesskostenhilfe auch insoweit bewilligt, als sie ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von maximal 400.000,- Euro nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit begehrt.
Der Antragstellerin wird auch insoweit Rechtsanwalt Q. , K. Straße 2 A, W. zur Vertretung in erster Instanz beigeordnet.
Im übrigen wird die im Hinblick auf die Schmerzensgeldklage zu 2) beantragte Prozesskostenhilfe abgelehnt.
Die weitergehend sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird zurück gewiesen.
Die Gerichtsgebühr für das Beschwerdeverfahren wird auf die Hälfte ermäßigt; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe:
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den die beantragte Prozesskostenhilfe zurückweisenden Teil des Beschlusses der 9. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg vom 21. September 2010 ist nach § 127 Abs. 2 S. 2 ZPO in Verbindung mit §§ 567 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 569 Abs. 1 ZPO zulässig und hat auch in der Sache teilweise Erfolg.
Soweit die Antragstellerin mit ihrem Rechtsmittel die teilweise Zurückweisung der beantragten Prozesskostenhilfe zum Klageantrag zu 2) angefochten hat und eine Prozesskostenhilfebewilligung über den von dem Landgericht als angemessen angenommenen Entschädigungsbetrag von 350.000,- Euro hinaus im Umfang von weiteren 150.000,- Euro an Schmerzensgeld weiter verfolgt, ist ihr Rechtsmittel zum Teil, nämlich im Hinblick auf eine Erhöhung der Entschädigungssumme um 50.000,- Euro begründet, im übrigen jedoch - mangels hinreichender Erfolgsaussichten einer 400.000,- Euro übersteigenden Schmerzensgeldklage - nicht gerechtfertigt.
Gemäß § 114 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf ihren Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
I.
Die sachlichen Bewilligungsvoraussetzungen des § 114 ZPO, nämlich die hinreichende Erfolgsaussicht für den hier allein noch im Beschwerdeverfahren in Rede stehenden Schmerzensgeldantrag zu 2), liegen hier im Umfang einer Begehrensvorstellung von maximal 400.000,- Euro vor.
Der Senat gelangt aufgrund der nach § 114 ZPO gebotenen summarischen Prüfung der bisherigen Sach- und Rechtslage zu dem Ergebnis, dass der in Aussicht genommene Schmerzensgeldanspruch der Antragstellerin wegen des behaupteten mangelhaften Geburtsmanagements in der seinerzeit unter der Trägerschaft der Antragsgegnerin stehenden Klinik aus §§ 823 Abs. 1, 831, 31, 89, 847 BGB in der bis zum 31. Juli 2002 gültigen Fassung (im Folgenden: a.F.) in Verbindung mit Art. 229 § 8 EGBGB in einer Größenordnung von bis zu 400.000,- Euro erfolgsversprechend sein könnte.
Wie das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt hat, kann - unter Zugrundelegung des schlüssigen und unter Beweis gestellten Sachvorbringens der Antragstellerin - eine Schadensersatzhaftung der Antragsgegnerin als Trägerin des Klinikums wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers bei der Geburt der Antragstellerin dem Grunde nach aus §§ 823 Abs. 1, 31, 89, 831, 847 BGB a.F. (Art. 229 § 8 EGBGB) nicht ausgeschlossen werden.
Unterstellt man im Rahmen der summarischen Erfolgsprüfung nach § 114 ZPO den Sachvortrag der Antragstellerin zu ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere zu ihrer geistigen Leistungs-, Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit als richtig, so erachtet der Senat ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von bis zu 400.000,- Euro für angemessen, aber auch ausreichend, um die eingetretenen Gesundheitsschäden der Antragstellerin zu kompensieren.
1. Die Funktion des dem Verletzten gemäß § 847 BGB a.F. nach billigem Ermessen zuzubilligenden Schmerzensgeldes besteht im wesentlichen darin, ihm einen angemessenen materiellen Ausgleich für diejenigen Schäden zu bieten, die nicht vermögensrechtlicher Natur sind, und zugleich dem Gedanken Rechnung zu tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung für das schuldet, was er ihm an Leid zugefügt hat (vgl. BGHZ 18, 149 ff; BGHZ 120, 1 - 9 zitiert nach juris).
Die billige Entschädigung soll den Geschädigten mithin in die Lage versetzen, die erlittenen immateriellen Nachteile, d.h. vor allen Dingen die Einbuße an körperlichen und seelischem Wohlbefinden, durch materielle Vorteile auszugleichen, die sein Wohlbefinden steigern (Ausgleichsfunktion). Darüber hinaus soll das Schmerzensgeld dem Verletzten Genugtuung dafür verschaffen, dass ein Dritter seine Rechtsgüter verletzt hat (Genugtuungsfunktion), wobei es sich insoweit um zwei sich ergänzende Wirkungsweisen eines einheitlichen Anspruchs handelt (vgl. OLG Saarbrücken MDR 2007, 1190 zitiert nach juris; Oetker in Münchener Kommentar, BGB, 4. Aufl., § 253 BGB Rdn. 10 ff; Pardey in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl., 7. Kapitel, Rdn. 35 m.w.N.).
Die Bemessung der als billig und angemessen erachteten Geldentschädigung erfolgt nach freiem Ermessen des erkennenden Gerichts (§ 287 Abs. 1 ZPO). Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts unterliegt insofern der vollen Nachprüfbarkeit durch das Beschwerdegericht, welches sein eigenes Ermessen auszuüben hat. Sämtliche schadensrelevanten Umstände des konkreten Einzelfalls, die dem Schaden sein Gepräge verleihen, hat der Senat dabei im Rahmen einer Gesamtschau zu würdigen und in ein angemessenes Verhältnis zu Art und Intensität der erlittenen Verletzungen zu setzen.
Mit Blick auf die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes sind auf Seiten des Verletzten insbesondere Ausmaß und Schwere der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen zu berücksichtigen sowie Art und Heftigkeit des hierdurch bedingten Leidens und Schmerzempfindens und darüber hinaus die fortwirkenden Schadensfolgen (vgl. BGH NJW 2004, 1243 - 1245 zitiert nach juris; BGHZ 138, 388 - 394 zitiert nach juris; Heinrichs in Palandt, BGB, 69. Aufl., § 253 BGB Rdn. 17 m.w.N.).
Die Antragstellerin leidet - unstreitig - an einem frühkindlichen Hirnschaden als Zustand nach einer perinatalen Asphyxie und einem Hirnödem zweiten Grades. Bei ihr liegt eine ausgeprägte mentale und statomotorische Retardierung vor. Ausweislich der zur Akte gereichten Befundberichte und Gutachten ist die geistige und sprachliche Entwicklung der Antragstellerin schwer beeinträchtigt. Der intellektuelle Entwicklungsstand der heute elfjährigen Antragstellerin entspricht dem eines zweijährigen Kindes. In der frühkindlichen Phase trat bei der Antragstellerin überdies zeitweilig eine Epilepsie auf, epileptische Anfälle waren in den letzten Jahren jedoch unter antikonvulsiver Schutzbehandlung nicht mehr zu verzeichnen. Bei der Antragstellerin besteht zudem eine Triparese, die ganz überwiegend als spastisch klassifiziert wird. Sie leidet darüber hinaus an einer Verkrümmung der Wirbelsäule, die zum Tragen einer Korsage zwingt. Selbständig kann sie nur in einer maßgefertigten Sitzschale im Rollstuhl sitzen, auf den sie zeitlebens angewiesen sein wird. Sie muss dabei ein Korsett und Unterschenkelorthesen tragen, die auch zur Nacht angelegt werden. Die Antragstellerin kann weder frei sitzen noch gehen oder stehen. Nach Gegenständen greift sie im Faustgriff, kann diese jedoch nur kurze Zeit halten. Die Antragstellerin vermag sich nur sehr eingeschränkt zu artikulieren, nur einzelne Worte gelingen ihr. Im übrigen ist eine verbale Kommunikation mit ihr nicht möglich, sie verständigt sich über Mimik, Gestik und Lautäußerungen. Sie ist hochgradig pflegebedürftig und wird ihr Leben lang bei allen alltäglichen Verrichtungen besondere Anleitung und umfassende Hilfestellung benötigen. Das heißt, sie muss gewaschen, gewindelt, gekleidet und teilweise gefüttert werden. Eine aktive und handlungsorientierte Eigenbeschäftigung ist so gut wie nicht möglich. Die Antragstellerin bedarf rund um die Uhr einer Betreuung, da sie keiner Lebenssituation selbständig gewachsen und im übrigen orientierungslos ist.
Beeinträchtigungen derartigen Ausmaßes verlangen angesichts des hohen Wertes, den Artikel 1 und 2 GG der Persönlichkeit und Würde des Menschen einräumen, einer herausragenden Entschädigung.
2. Soweit das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung ausgeführt hat, dass anspruchsmindernd zu berücksichtigen sei, dass die Antragstellerin die beschriebene Symptomatik und Entwicklungsverzögerung von Geburt an aufweise und sich ihres Zustandes nicht bewusst sei und deshalb nicht in besonderen Maße darunter leiden würde, kann der Senat dem allerdings nicht folgen.
Das Landgericht verkürzt die Funktion des Schmerzensgeldes, wenn es selbst in den Fällen, in denen dem Geschädigten von vorneherein die Basis für die Entfaltung seiner Persönlichkeit genommen worden ist, dem Empfinden dieses Schicksals ein besonderes Gewicht für die Bemessung des Schmerzensgeldes beilegt und gerade diesem Umstand, der die besondere Schwere der zu entschädigenden Beeinträchtigung für den Betroffenen ausmacht, zum Anlass für eine Minderung des Schmerzensgeldes nehmen will. Die Zubilligung eines Schmerzensgeldes setzt nicht voraus, dass der Geschädigte die ihm zugefügten gesundheitlichen Beeinträchtigungen als solche auch empfindet. Ein immaterieller Schaden besteht nicht nur in körperlichen und seelischen Schmerzen, also in Mißempfindungen oder Leiden als Reaktion auf die Verletzung des Körpers oder die Beschädigung der Gesundheit. In Fällen schwerster Schädigung kann eine ausgleichspflichtige immaterielle Beeinträchtigung vielmehr auch gerade darin liegen, dass die Persönlichkeit ganz oder weitgehend zerstört und hiervon auch die Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit betroffen ist. Der Verlust der personalen Qualität infolge schwerer Hirnschädigung stellt schon für sich einen auszugleichenden immateriellen Schaden dar, unabhängig davon, ob der Betroffene sein Schicksal überhaupt zu empfinden vermag. Bei Schäden dieses Ausmaßes, wie sie auch im Streitfall vorliegen, handelt es sich um eine eigenständige Fallgruppe, bei der die Einbuße der Persönlichkeit bzw. der Wegfall der Basis für ihre Entfaltung durch den Verlust der Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit im Vordergrund steht und deshalb auch bei der Bemessung der Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB einer eigenständigen Bewertung zugeführt werden muss (vgl. BGHZ 120, 1 - 9 zitiert nach juris; BGHZ 138, 388 - 394 zitiert nach juris; OLG Stuttgart VersR 2009, 80 - 81 zitiert nach juris; OLG Hamm VersR 2002, 1163 - 1164; OLG Hamm VersR 2004, 386 - 388 zitiert nach juris; OLG Braunschweig VersR 2004, 924 - 926 zitiert nach juris; OLG München OLGR München 2006, 92 - 94 zitiert nach juris). Angesichts des hohen Wertes, den das Grundgesetz in Art. 1 und 2 GG der Persönlichkeit und der Würde des Menschen beimisst, müsste es in Fällen einer Schwerstschädigung nämlich andernfalls als nicht auflösbarer Widerspruch in sich erscheinen, die vom Schädiger zu verantwortende weitgehende Zerstörung der Grundlagen für die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit als Umstand anzusehen, der das Schmerzensgeld mindern muss (vgl. BGHZ 129, 1 - 9 zitiert nach juris). Im Rahmen der Gesamtbeurteilung der Einbuße muss der erkennende Richter vielmehr der Tatsache angemessen Geltung verschaffen, dass die vom Schädiger zu verantwortende weitgehende Schädigung bzw. Zerstörung der Grundlagen für Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit den Verletzten in seinen Wurzeln trifft und für ihn insoweit existenzielle Bedeutung hat. Dabei können je nach dem Ausmaß der jeweiligen Beeinträchtigung und dem Grad der dem Verletzten verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit aber durchaus Abstufungen vorgenommen werden, um den Besonderheiten des jeweiligen Schadensfalls Rechnung zu tragen. Es ist dem Tatrichter allerdings nicht erlaubt, ein nur gedachtes Schadensbild, das durch eine ungeschmälerte Empfindungs- und Leidensfähigkeit gekennzeichnet ist, zugrunde zu legen und sodann hiervon mit Rücksicht auf den vollständigen oder weitgehenden Wegfall der Empfindungsfähigkeit Abstriche vorzunehmen (vgl. BGHZ 120, 1 - 9 zitiert nach juris; BGH NJW 1993, 1531 - 1532 zitiert nach juris).
3. Bei Anlegung dieses Maßstabes erscheint dem Senat im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung aller Umstände, die von der Antragstellerseite schlüssig vorgetragen worden sind, ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von maximal 400.000,- Euro angemessen.
Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass die Antragstellerin schwerstbehindert ist mit den bereits unter Ziffer 1) beschriebenen Auswirkungen. Unter Zugrundelegung des schlüssigen Sachvorbringens der Antragstellerseite entspricht ihre motorische und geistige Entwicklung derjenigen eines zweijährigen Kindes. Sie erkennt ihre Eltern, kann mit ihnen aber nicht kommunizieren. Die Antragstellerin wird dauerhaft auf fremde Hilfe und Betreuung bei der alltäglichen Lebensbewältigung angewiesen sein. Möglichkeiten einer körperlichen und geistigen Entwicklung und damit die typische Perspektiven- und Erlebnisvielfalt eines unbehinderten jungen Lebens sind ihr dauerhaft genommen. Der Senat hat bedacht, dass dieser Einbuße an personaler Qualität bei der Bemessung des Entschädigungsbetrages angemessen Geltung zu verschaffen ist. Die Antragstellerin ist nämlich insoweit in den Wurzeln ihrer Persönlichkeit betroffen, nicht zuletzt weil sie zeitlebens nicht in der Lage sein wird, ihre elementarsten Bedürfnisse ohne fremde Hilfestellung zu stillen und aus diesem Grunde gehindert sein wird, sich jemals eine von Dritten ungestörte Intimsphäre aufzubauen. Der Aufbau enger persönlicher Bindungen bleibt ihr verschlossen. Aufgrund der Schwere der Behinderung ist die Antragstellerin zudem außerstande, sich in irgendeiner sinnvollen Form selbst zu beschäftigen. Mit einer Verringerung des Pflegebedarfs ist nicht zu rechnen.
Somit zählt die Antragstellerin nach der Überzeugung des Senates angesichts ihrer schweren körperlichen und mentalen Behinderung - insbesondere der Behinderung kognitiver Fähigkeiten, der Sprachentwicklung und Kommunikation und Koordination, der Behinderung der Autonomie bei vollständiger Immobilität und Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme - zu den Fällen, in denen dem Geschädigten aufgrund der Schwere der Gesundheitsschädigung die Basis für eine Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit genommen ist, was bei der Schmerzensgeldbemessung angesichts der herausragenden Bedeutung, die dem Persönlichkeitsrecht nach Art. 1, 2 GG zukommt, anspruchserhöhend zu berücksichtigen ist. Dabei hat der Senat jedoch zugleich bedacht, dass im Rahmen der gebotenen Gesamtschau nach dem Grad der der Geschädigten verbliebenen Empfindungs-, Wahrnehmungs- und Leidensfähigkeit Abstufungen vorzunehmen sind, um den Besonderheiten der hier konkret vorliegenden Schadensausprägung Rechnung tragen zu können.
4. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin ist eine Erhöhung des Schmerzensgeldes wegen einer verzögerten Schadensregulierung durch die Antragsgegnerin im Streitfall indessen nicht in Betracht gekommen.
a) Dass eine ungebührliche Hinauszögerung der Schadensregulierung durch die Versicherungsgesellschaft im Rahmen der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes Berücksichtigung finden kann, ist zwar allgemein anerkannt (vgl. OLG Naumburg NJW-RR 2002, 672 zitiert nach juris; OLG Naumburg NJW-RR 2008, 693; OLG Köln VersR 2007, 259 zitiert nach juris; OLG Brandenburg, Urteil vom 15. Februar 2010, 12 U 60/09 zitiert nach juris; Heinrichs in Palandt, BGB, 69. Aufl., § 253 BGB Rdn. 18 m.w.N.).
So vermag ein völlig uneinsichtiges vorgerichtliches und prozessuales Verhalten des Schadensersatzpflichtigen (bzw. der ihn vertretenden Versicherung) eine unter Umständen auch signifikante Erhöhung des Schmerzensgeld-Kapitalbetrages zu rechtfertigen (vgl. OLG Naumburg NJW-RR 2002, 672 zitiert nach juris).
b) Davon kann hier jedoch nicht ausgegangen werden.
Die Schadensersatzverpflichtung der Antragsgegnerin stand vorgerichtlich weder außer Streit noch ansonsten zweifelsfrei fest. Aus Sicht der Antragsgegnerin lag eine haftungsbegründende Verursachung des Gesundheitsschadens vielmehr nicht vor. Ihr darf es aber nicht verwehrt werden, ihre eigenen prozessualen Verteidigungsrechte in Anspruch zu nehmen und ihre Eintrittspflicht zunächst – mit nachvollziehbaren Erwägungen - in Abrede zu stellen, wenn aus ihrer Sicht Zweifel an dem Bestehen eines Haftungsgrundes vorliegen. Das ist hier der Fall. Die Antragsgegnerin bestreitet in prozessual beachtlicher Weise die Kausalität zwischen der körperlichen und geistigen Behinderung der Antragstellerin und einer behandlungsfehlerhaft hervorgerufenen Sauerstoffunterversorgung unter der Geburt und kann sich insoweit auf das Gutachten der Privatsachverständigen Prof. Dr. med. J. G. vom 28. März 2008 sowie das neuroradiologische Gutachten des vorgerichtlich mit einer Begutachtung beauftragten Prof. Dr. med. Z. vom 20. März 2006 stützen. Beide vorgerichtlich eingeschaltete Privatsachverständigen halten es für unwahrscheinlich, dass die bei der Antragstellerin jetzt vorliegende schwere psychomotorische Retardierung ausschließlich auf eine geburtsassoziierte schwerwiegende globale Hypoxie zurück zu führen sei. Wenn aber der Haftungsgrund selbst noch ungeklärt ist, kann das Unterlassen einer Vorschusszahlung auf ein Schmerzensgeld nicht als ein für die Bemessung der Entschädigungshöhe relevantes Regulierungsversäumnis gewertet werden. Es ist im übrigen auch nicht ersichtlich, dass die verzögerte Schadensregulierung zu einer weiteren seelischen Beeinträchtigung der Antragstellerin geführt hat.
5. Unter Abwägung aller Gesamtumstände und einer vergleichenden Betrachtung ähnlich gelagerter Fälle in der Referenzrechtsprechung hält der Senat zum Ausgleich der immateriellen Beeinträchtigungen einen einmaligen Kapitalbetrag von maximal 400.000,- Euro für angemessen, aber auch ausreichend.
Ein höherer Betrag bis zu 500.000,- Euro erscheint dem Senat dagegen in Anbetracht der Tatsache, dass der Schaden zwar unbestreitbar schwere und bittere Folgen für die Antragstellerin und ihre Familie zeitigt, aber noch nicht die denkbar allerschwersten Folgen, nicht gerechtfertigt. Der Senat kommt nicht umhin, eine deutliche Abstufung zu der Fallgruppe von Schwerstschäden vorzunehmen, bei der sich das Leben des Betroffenen weitgehend auf eine Aufrechterhaltung vitaler Funktionen, der Bekämpfung von Krankheiten und der Vermeidung von Schmerzen beschränkt und ein schlechterer Zustand schlechterdings nicht mehr vorstellbar erscheint. Allein in einem solchen Fall, in dem das Ausmaß an Schäden nicht mehr zu vergrößern ist, ist in der Referenzrechtsprechung bisher ein Schmerzensgeld bis zur Grenze von 500.000,- Euro zugebilligt worden (vgl. hierzu: OLG Hamm VersR 2004, 386 zitiert nach juris; OLG Stuttgart VersR 2009, 80 - 81 zitiert nach juris). Von dieser Schadenskategorie unterscheidet sich der Streitfall jedoch nach Art und Intensität der gesundheitlichen Beeinträchtigungen, was aber einen geringeren Schmerzensgeldbetrag als angemessen erscheinen lässt. Der Senat schätzt die gesundheitliche Situation der Antragstellerin auch im Hinblick auf die ihr verbliebene Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit vielmehr als nicht ganz so dramatisch ein wie in dem Fall, den das Oberlandesgericht Hamm mit Urteil vom 21. Mai 2003 (3 U 122/02, VersR 2004, 386) zu entscheiden hatte. Auch der Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart lag eine – im Vergleich zur Situation der Antragstellerin - deutlich höhere Schadensintensität zugrunde. Der dortige Kläger hatte schwerste hypoxische Hirnschäden erlitten, die in dem Bereich liegen, der die denkbar schwerste Schädigung eines Menschen charakterisiert. In diesem Zusammenhang ist im übrigen zu bedenken, dass bei der Schmerzensgeldbemessung immer nur Annährungswerte gebildet werden können. Eine absolut angemessene Entschädigung für nichtvermögensrechtliche Nachteile kann es dagegen nicht geben, da diese eben nicht in Geld messbar sind (vgl. BGHZ (GS) 18, 149, 156, 164; OLG München OLGR München 2006, 92 - 94 zitiert nach juris).
Die von dem Senat erwogene Entschädigungshöhe bewegt sich insgesamt in einer Größenordnung, die die obergerichtliche Rechtsprechung in ähnlich gelagerten Fallkonstellationen den Geschädigten in der Regel zu erkennt, wobei allerdings nicht verkannt werden kann, dass die Rechtsprechung in Fällen sehr schwerer Schädigung von Neugeborenen ein recht divergierendes Bild bietet.
Der Senat verweist auf eine Entscheidung des OLG Bamberg vom 16. Januar 2006 (Geschäftszeichen 4 U 34/02; Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeldbeträge 2009, 27. Aufl., Rdn. 2888), das einem Kind, das eine schwerste Hirnschädigung bei seiner Geburt aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers erlitten hat, ein Schmerzensgeld in Höhe von 400.000,- Euro zugesprochen hat. Bei der dortigen Klägerin hat eine schwere psychoneurologische Behinderung in Form einer Tetraparese mit einer zentralnervösen schweren Wahrnehmungsstörung und einer schwerwiegenden Sehbehinderung als Folge einer schweren Hirnschädigung infolge Sauerstoffmangels unter der Geburt vorgelegen. Sie ist motorisch und cerebral zu 100 % schwerstbehindert und zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen. Sie kann sich nicht ohne fremde Hilfe fortbewegen, nicht alleine sitzen oder liegen und nur mit fremder Hilfe ernähren. Schmerzensgelderhöhend war zu berücksichtigen, dass die dortige Klägerin fast blind und taub ist und sich verbal nicht ausdrücken kann.
Das OLG Düsseldorf hat in einer vergleichbaren Schadenskonstellation (infolge eines Sauerstoffmangels unter der Geburt erlittene körperliche und geistige Schwerstbehinderung, nämlich eine infantile Zerebralparese mit ausgeprägter psychomotorischer Retardierung und einer Tetraspastik) mit Urteil vom 26. April 2007 (Geschäftszeichen 8 U 37/05; VersR 2008, 534 - 537) ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000,- Euro sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente von 300,- Euro für angemessen erachtet.
Das OLG München hat mit Beschluss vom 19. Mai 2005 die Berufungen beider Parteien gegen ein Urteil des LG München zurückgewiesen, in dem die Beklagten wegen eines Behandlungsfehlers im Rahmen der Entbindung verurteilt worden sind, an das körperlich und geistig schwerstbehinderte Kind ein Schmerzensgeld in Höhe von 350.000,- Euro abzüglich eines bereits durch den Versicherer bezahlten Betrages sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente von 500,- Euro zu zahlen (vgl. OLG München OLGR München 2006, 92 - 94 zitiert nach juris).
Der Senat nimmt ferner Bezug auf das Urteil des OLG Braunschweig vom 22. April 2004 (vgl.OLG Braunschweig VersR 2004, 924 - 926 zitiert nach juris), mit dem das OLG Braunschweig einem Kind, das infolge einer massiven Hirnblutung und eines posthämorrhagischen Hydrozephalus (sog. Wasserkopf) an einer spastischen Tetraparese, einer hochgradigen Sehbehinderung, einer Hüftgelenksluxation, einer BNS-Epilepsie und mental massiven Retardierung leidet, ein Gesamtschmerzensgeld in Höhe von 350.000,- Euro zuerkannt hat.
Mit Urteil vom 27. Februar 2006 hat das OLG Celle (Geschäftszeichen 1 U 68/05; VersR 2007, 543 - 544) einem bei der Geburt schwerstgeschädigten Kind mit einem schweren Residualsyndrom mit spastischer Tetraparese und schwerer psychomotorischer und mentaler Retardierung ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000,- Euro zugesprochen.
Das OLG Oldenburg hat in seinem Urteil vom 28. Mai 2008 (Geschäftszeichen 5 U 28/06; OLGR Oldenburg 2008, 737 - 738 zitiert nach juris) in einem vergleichbaren Fall bei bleibender schwerer Hirnschädigung in Form einer schweren infantilen Cerebralparese in Verbindung mit einer ausgeprägten geistigen Behinderung eine billige Entschädigung in Höhe von 300.000,- Euro für angemessen erachtet.
Soweit das Landgericht in seiner Nichtabhilfentscheidung vom 27. Oktober 2010 auf das Urteil des OLG Brandenburg vom 25. Februar 2010 (12 U 60/09 zitiert nach juris) Bezug genommen hat, in dem dem geschädigten Kind ein Schmerzensgeld in Höhe von 275.000,- Euro zugesprochen wurde, ist allerdings zu berücksichtigen gewesen, dass die dortige Klägerin in ihren motorischen und geistigen Fähigkeiten – im Vergleich zur Antragstellerin – weiter entwickelt zu sein scheint. Die dortige Klägerin ist – mit entsprechenden orthopädischen Hilfsmitteln - in der Lage, frei zu laufen, ihr Lauf- und Stehvermögen konnte ebenso verbessert werden, wie die Motorik der linken Hand, während die Antragstellerin diesen Zustand niemals erreichen wird. Nahrung kann die dortige Klägerin mit Löffel und Gabel selbständig aufnehmen. In dem Urteil des OLG Brandenburg ist zudem beschrieben, dass die kognitiven Fähigkeiten der dortigen Klägerin im unterdurchschnittlichen Bereich liegen, sie ihre Situation aber durchaus reflektieren kann. Die Entscheidung erscheint daher nur bedingt als Orientierungshilfe für die Schmerzensgeldbemessung im Streitfall geeignet.
Unter Berücksichtigung der angeführten Referenzrechtsprechung hält der Senat – im Ergebnis einer umfassenden Würdigung sämtlicher vorgetragener Umstände des Falls – nach alledem ein Schmerzensgeld in Höhe von maximal bis zu 400.000,- Euro in der Obergrenze für angemessen und sachgerecht.
Der Zinsanspruch der Antragstellerin ist ab Rechtshängigkeit aus §§ 280 Abs. 1, 286 Abs. 1, 288 BGB bzw. aus §§ 291, 288 BGB gerechtfertigt.
Die weitergehende sofortige Beschwerde der Antragstellerin muss demnach ohne Erfolg bleiben.
II.
Der Senat hat von der nach KV - GKG Nr. 1812 eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Gerichtsgebühr für die teilweise erfolglose Beschwerde der Antragstellerin um die Hälfte zu ermäßigen.
Im übrigen finden eine Kostenerstattung nach § 127 Abs. 4 ZPO nicht statt.
gez. Dr. Zettel gez. Dr. Tiemann gez. Göbel-----------------------------------------------------
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