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Pressemitteilung
C-61/11 PPU;
Verkündet am: 
 28.04.2011
EuGH Europäischer Gerichtshof
 

Rechtskräftig: unbekannt!
RL über Rückführung illegaler Einwanderer steht nationaler Regelung entgegen, die Haftstrafe für Drittstaatsangehörigen vorsieht, der sich illegal im Inland aufhält und eine Anordnung, das Staatsgebiet zu verlassen, nicht befolgt
Leitsatz des Gerichts:
Die Richtlinie über die Rückführung illegaler Einwanderer steht einer nationalen Regelung entgegen, die eine Haftstrafe für einen Drittstaatsangehörigen vorsieht, der sich illegal im Inland aufhält und eine Anordnung, das Staatsgebiet zu verlassen, nicht befolgt

Eine strafrechtliche Sanktion, wie sie die italienischen Rechtsvorschriften vorsehen, droht die Verwirklichung des Ziels zu gefährden, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter Achtung der Grundrechte zu schaffen
Herr El Dridi, ein Drittstaatsangehöriger, reiste illegal nach Italien ein. Im Jahr 2004 erging ein Dekret über seine Ausweisung, auf dessen Grundlage im Jahr 2010 angeordnet wurde, dass er das Staatsgebiet binnen fünf Tagen verlassen muss. Die letztgenannte Maßnahme wurde damit begründet, dass Herr El Dridi keine Ausweispapiere besitze, dass kein Transportmittel zur Verfügung stehe und dass es wegen Platzmangels nicht möglich sei, ihn vorübergehend in eine Identifikations- und Ausweisungseinrichtung aufzunehmen. Da Herr El Dridi die Anordnung nicht befolgte, wurde er vom Tribunale di Trento (Italien) zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt.

Die Corte d’appello di Trento, bei der er Berufung eingelegt hat, möchte vom Gerichtshof wissen, ob die Richtlinie über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger („Rückführungsrichtlinie“)1 einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass gegen einen Ausländer, der sich illegal im Inland aufhält, allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen einer Anordnung, das Staatsgebiet innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in diesem Gebiet bleibt.

Der Gerichtshof hat dem Antrag des vorlegenden Gerichts, über das Ersuchen im Eilverfahren zu entscheiden, stattgegeben, weil sich Herr El Dridi in Haft befindet.

Er führt zunächst aus, dass durch die „Rückführungsrichtlinie“ gemeinsame Normen und Verfahren geschaffen werden, die darauf abzielen, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise durchzuführen. Die Mitgliedstaaten dürfen von diesen Normen und Verfahren nicht durch Anwendung strengerer Normen abweichen.
Die Richtlinie schreibt genau vor, welches Verfahren bei der Rückführung illegal aufhältiger Ausländer anzuwenden ist, und legt die Reihenfolge der verschiedenen Schritte dieses Verfahrens fest.

Der erste Schritt besteht im Erlass einer Rückkehrentscheidung. Im Rahmen dieses Schritts hat die freiwillige Ausreise Vorrang, für die dem Betroffenen in der Regel eine Frist zwischen sieben und 30 Tagen gesetzt wird.

Erfolgt die freiwillige Ausreise nicht binnen dieser Frist, sind die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie verpflichtet, eine zwangsweise Abschiebung unter Einsatz möglichst wenig intensiver Zwangsmaßnahmen vorzunehmen.

Nur wenn die Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, kann der Mitgliedstaat ihn in Haft nehmen. Nach der „Rückführungsrichtlinie“2 muss die Haft so kurz wie möglich bemessen sein und wird in gebührenden Zeitabständen überprüft; sie ist zu beenden, wenn sich herausstellt, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht, und ihre Höchstdauer beträgt 18 Monate. Darüber hinaus müssen die Betroffenen in einer speziellen Einrichtung und jedenfalls gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht werden.

Die Richtlinie sieht somit eine Abstufung der zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu treffenden Maßnahmen und die Pflicht zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in jedem Verfahrensstadium vor. Diese Abstufung reicht von der die Freiheit des Betroffenen am wenigsten beschränkenden Maßnahme – der Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise – bis zu der einschneidendsten freiheitsbeschränkenden Maßnahme – der Inhaftnahme in einer speziellen Einrichtung –, die nach der Richtlinie im Rahmen eines Verfahrens der zwangsweisen Abschiebung zulässig ist.

Mit der Richtlinie wird somit das Ziel verfolgt, die Höchstdauer des Freiheitsentzugs im Rahmen des Rückführungsverfahrens zu begrenzen und dadurch die Achtung der Grundrechte illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu gewährleisten. Insoweit trägt der Gerichtshof u. a. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rechnung.

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass die „Rückführungsrichtlinie“ nicht in italienisches Recht umgesetzt wurde3, und weist darauf hin, dass sich in einem solchen Fall ein Einzelner gegenüber dem Mitgliedstaat, der die Umsetzung unterlassen hat, auf inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie berufen kann. Dies trifft hier auf die Art. 15 und 16 der „Rückführungsrichtlinie“ zu. Insoweit ist der Gerichtshof der Auffassung, dass sich das italienische Abschiebungsverfahren erheblich von dem Verfahren nach der Richtlinie unterscheidet.

Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass das Strafrecht zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt und dass die „Rückführungsrichtlinie“ ihnen die Möglichkeit lässt, Maßnahmen auch strafrechtlicher Art zu treffen, wenn mit Zwangsmaßnahmen die Abschiebung nicht erreicht werden konnte; sie müssen ihre Rechtsvorschriften aber in jedem Fall so ausgestalten, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist. Somit dürfen sie keine Regelung, auch strafrechtlicher Art, anwenden, die die Verwirklichung der mit einer Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und sie ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte.

Der Gerichtshof ist deshalb der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten für den Fall, dass Zwangsmaßnahmen zur Durchführung der zwangsweisen Abschiebung fehlschlagen, nicht befugt sind, zur Abhilfe eine Freiheitsstrafe, wie sie die im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Rechtsvorschriften vorsehen, allein deshalb zu verhängen, weil sich ein Drittstaatsangehöriger, nachdem ihm eine Anordnung zum Verlassen des Staatsgebiets bekannt gegeben wurde und die darin gesetzte Frist abgelaufen ist, weiterhin illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält. Sie müssen vielmehr ihre auf die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, die weiterhin Wirkungen entfaltet, gerichteten Anstrengungen fortsetzen.

Eine solche Freiheitsstrafe droht nämlich, insbesondere aufgrund ihrer Bedingungen und Anwendungsmodalitäten, die Verwirklichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels zu beeinträchtigen, das darin besteht, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik in Bezug auf illegal aufhältige Drittstaatsangehörige unter Achtung der Grundrechte zu schaffen.

Das vorlegende Gericht, das die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten hat, muss daher jede dem Resultat der Richtlinie zuwiderlaufende nationale Bestimmung (insbesondere eine Bestimmung, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren vorsieht) unangewendet lassen und dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes, der zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gehört, Rechnung tragen.

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1 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).
2 Art. 15 und 16.
3 Die Frist für die Umsetzung der Richtlinie in die nationalen Rechtsordnungen lief am 24. Dezember 2010 ab.

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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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