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Text des Beschlusses
11 TaBV 77/10;
Verkündet am: 
 26.01.2011
LAG Landesarbeitsgericht
 

München
Vorinstanzen:
19 BV 353/10
Arbeitsgericht
München;
Rechtskräftig: unbekannt!
Auch bei einer Wahlteilnahme der Belegschaft von qualifizierten Betriebsteilen iSv. § 4 I S.1 BetrVG (hier weit vom Hauptbetrieb entfernt) an der Betriebsratswahl im Hauptbetrieb wird der gesetzlich fingierte Betriebsbegriff nicht verändert
Leitsatz des Gerichts:
§ 98 ArbGG, §§ 4 Abs. 1, 111, 112 BetrVG

Auch bei einer Wahlteilnahme der Belegschaft von qualifizierten Betriebsteilen i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG (hier weit vom Hauptbetrieb entfernt) an der Betriebsratswahl im Hauptbetrieb wird der gesetzlich fingierte Betriebsbegriff nicht verändert. Die Prüfung der Betriebsänderung und einer Sozialplanpflicht bezieht sich allein auf die Größenordnung im gesetzlich fingierten Betrieb gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG.
In dem Beschlussverfahren
mit den Beteiligten

1. Betriebsrat der B. B. GmbH
- Antragsteller, Beteiligter zu 1 und Beschwerdeführer -
Verfahrensbevollmächtigte:

2. B. B. GmbH
- Beteiligte zu 2 -
Verfahrensbevollmächtigte:

hat die 11. Kammer des Landesarbeitsgerichts München auf Grund der mündlichen Anhörung vom 26. Januar 2011 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Müller für Recht erkannt:

Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss des Arbeitsgerichts München - 19 BV 353/10 - vom 24.09.2010 abgeändert:

Es wird eine Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Aufstellung eines Sozialplans betreffend den Ausgleich bzw. Abmilderung der wirtschaftlichen Nachteile aus Anlass der geplanten Schließung der Geschäftsstelle Ma.“ errichtet.



Gründe:


A.

Die Beteiligten streiten über die Errichtung einer Einigungsstelle zur Aufstellung eines Sozialplans für die Geschäftsstelle in Ma.

Antragsteller ist der im Hauptbetrieb in Mü., in dem 890 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt werden, gebildete Betriebsrat. Die Arbeitgeberin betreibt ein Bankunternehmen und hierbei neben anderen Geschäftsstellen auch eine Geschäftsstelle in Ma., in der 16 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt werden.

Diese in der Geschäftsstelle Ma. beschäftigten Arbeitnehmer haben bei der letzten Betriebsratswahl in einer Abstimmung gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG beschlossen, an der Wahl des Betriebsrats im Hauptbetrieb in Mü. teilzunehmen.

Die Arbeitgeberin hat sich entschlossen, die Geschäftsstelle Ma. zu schließen. Verhandlungen über die Aufstellung eines Sozialplans wurden abgelehnt.

Daraufhin hat der Betriebsrat die Anrufung der Einigungsstelle beschlossen und nach einer Ablehnung das Bestellungsverfahren gem. § 98 ArbGG eingeleitet.

Erstinstanzlich haben sich die Beteiligten in einem Teilvergleich dahingehend geeinigt, dass für den Fall, dass dem Antrag des Betriebsrats entsprochen werde, die Vizepräsidentin des Arbeitsgerichts München als Einigungsstellenvorsitzende eingesetzt und die Zahl der Beisitzer auf jeweils drei pro Seite festgesetzt werde.

Das Arbeitsgericht München hat mit Beschluss vom 24.09.2010, der den Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrats am 05.10.2010 zugestellt wurde, den Antrag auf Errichtung einer Einigungsstelle zurückgewiesen. Es hat dies im Wesentlichen damit begründet, dass die beabsichtigte Einigungsstelle offensichtlich unzuständig sei, da durch den Zuordnungsbeschluss der Arbeitnehmer der Geschäftsstelle Ma. die Stilllegung dieser Geschäftsstelle nicht erhebliche Teile der Belegschaft betreffe. Wegen der weiteren Einzelheiten der tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen sowie der gestellten Anträge wird auf den erstinstanzlichen Beschluss Bezug genommen.

Mit seiner durch seine Verfahrensbevollmächtigten eingereichten Beschwerde vom 11.10.2010, eingegangen beim Landesarbeitsgericht am 12.10.2010, die zugleich begründet wurde, moniert der Betriebsrat, dass das Erstgericht die gesetzliche Fiktion des § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG außer Acht gelassen habe.

Das Betriebsverfassungsgesetz enthalte an keiner Stelle eine Bestimmung, wonach die gesetzliche Fiktion dann nicht greife, wenn die Belegschaft an der Wahl des Betriebsrats des Hauptbetriebs teilnehme. Es fehle insoweit eine den Bestimmungen des § 3 Abs. 5 Satz 1 BetrVG vergleichbare Regelung.

Die vom Arbeitgeber zitierten Entscheidungen seien vom Sachverhalt nicht eindeutig mit der vorliegenden Sachkonstellation vergleichbar, sodass eine offensichtliche Unzuständigkeit der beabsichtigten Einigungsstelle nicht gegeben sei.

Formalrechtlich beanstandet der Betriebsrat, dass der erstinstanzliche Beschluss ausweislich des Sitzungsprotokolls über den Verkündungstermin vom 24.09.2010 die Anwesenheit zweier ehrenamtlicher Richter bekunde und damit eine gem. § 98 Abs. 1 Satz 1 ArbGG vorgeschriebene Alleinentscheidung durch den Vorsitzenden nicht erfolgt sei.

Der Betriebsrat stellt folgende Anträge:

I. Der Beschluss des Arbeitsgerichts München vom 24.09.2010, Az. 19 BV 353/10, wird aufgehoben.

II. Es wird eine Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Aufstellung eines Sozialplans betreffend den Ausgleich bzw. Abmilderung der wirtschaftlichen Nachteile aus Anlass der geplanten Schließung der Geschäftsstelle Ma.“ errichtet.

Die Arbeitgeberin beantragt demgegenüber,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den erstinstanzlichen Entscheid für formal korrekt, da die mündliche Anhörung vom 16.09.2010 alleine durch den Vorsitzenden erfolgt und außerdem der Verstoß verspätet nach Ablauf der Zweiwochenfrist gerügt worden sei.

Die Arbeitgeberin verteidigt die ergangene Entscheidung auch inhaltlich, da zutreffend sei, dass mangels Existenz bzw. Wahl eines Betriebsrats für die Geschäftsstelle Ma. zu keinem Zeitpunkt eigenständige Sozialplanansprüche für den dortigen Betriebsteil bestanden hätten.

Die Belegschaft des Betriebsteils in Ma. müsse sich an den gefassten Beschluss festhalten lassen, bei der Wahl des Betriebsrats im Hauptbetrieb in Mü. nach § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG teilzunehmen, sie müssten die damit verbundenen Rechtsfolgen tragen.

Durch den Zuordnungsbeschluss seien die Voraussetzungen für einen selbstständigen Betrieb i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG aufgegeben worden. Zudem wäre der Betriebsrat demokratisch nicht legitimiert, ausschließlich für die Mitarbeiter der Betriebsstätte Ma. zu entscheiden.

Die Rechtsauffassung des Betriebsrats würde die gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auf den Kopf stellen, derzufolge durch eine wirksame Betriebsratswahl fixierte Betriebsstrukturen zumindest bis zur nächsten Betriebsratswahl anzuerkennen sind.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze vom 11.10.2010, 19.10.2010 und 02.11.2010 Bezug genommen.


B.

Die zulässige Beschwerde des Betriebsrats hat in der Sache Erfolg.


I.

Die Beschwerde des Betriebsrats ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 98 Abs. 2, 87 Abs. 1 u. Abs. 2, 89 Abs. 1 u. Abs. 2, 66 Abs. 1 ArbGG i. V. m. §§ 518, 519 ZPO) und damit zulässig.


II.

Der angegriffene Beschluss ist formell in Ordnung, da ausweislich der Protokollniederschriften sowie des - allein - vom Kammervorsitzenden unterschriebenen Beschlusses dieser ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter entschieden hat (§ 98 Abs. 1 Satz 1 ArbGG).

Die gesonderte Verkündung des Beschlusses in protokollierter Anwesenheit ehrenamtlicher Richter ist demgegenüber unschädlich.


III.

Die Beschwerde ist begründet, da die erstrebte Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand der Erstellung eines Sozialplans nicht gem. § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG offensichtlich unzuständig ist.

1. Eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle gem. § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, die allein zur Zurückweisung des vorliegenden Bestellungsantrags führen könnte, ist nur dann gegeben, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht im Rahmen des hier gegebenen summarischen Verfahrens (vgl. BAG, B. v. 09.05.1995, 1 ABR 51/94, AP Nr. 33 zu § 111 BetrVG 1972; B. v. 22.01.1980, DB 1980, 1 ABR 48/77, S. 1895 f) sofort erkennbar ist, dass ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht - hier nach § 112 Abs. 4 Satz 1 u. Satz 2 BetrVG - unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommen kann und es nicht als möglich erscheint, dass sich die beizulegende Streitigkeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat auf den ersten Blick erkennbar unter einen mitbestimmungspflichtigen Tatbestand subsumieren lässt (vgl. LAG München, B. v. 14.03.1989, 2 TaBV 53/88, LAGE Nr. 18 zu § 98 ArbGG 1979; B. v. 16.06.2005, 4 TaBV 18/05 (nv); B. v. 17.07.2007, 4 TaBV 65/07 (nv); B. v. 19.05.2008, 4 TaBV 35/08 (nv); B. v. 16.12.2010, 4 TaBV 80/10 (nv); LAG Köln, B. v. 19.08.1998, 7 TaBV 32/98, AP Nr. 10 zu § 98 ArbGG 1979; LAG Hamm, B. v. 11.01.2010, 10 TaBV 99/09, LAGE Nr. 57 zu § 98 ArbGG 1979; Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, ArbGG, 7. Aufl. 2009, § 98 Rz. 22; Schwab/Weth-Walker, ArbGG, 2. Aufl. 2008, § 98 Rz. 36 f, jew. m. w. N.).

Da das Einigungsstellenbestellungsverfahren nicht mit der Klärung schwieriger Rechtsfragen belastet werden soll, ist die offensichtliche Unzuständigkeit nur dann anzunehmen, wenn aus dem zur Begründung des Antrags vorgetragenen Sachverhalt oder dem übereinstimmenden Vorbringen der Beteiligten für das Gericht ohne weiteres Nachprüfen erkennbar ist, dass aus ihm die beantragte Rechtsfolge nicht hergeleitet werden kann. Entscheidend ist, dass sich die Unbegründetheit des Antrags ohne weiteres aufdrängt, die aufgrund gewissenhafter Prüfung gewonnene Rechtsmeinung derart eindeutig ist, dass keinerlei vernünftige Zweifel hierüber möglich sind - etwa, weil bereits eine gegen ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats sprechende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vorliegt, eine abschließende, jede Regelungsoption ausschließende tarifliche Regelung besteht oder ähnliche Offensichtlichkeiten gegeben sind.

Sinn und Zweck dieser gesetzlichen Regelung ist es, dass das Arbeitsgericht im Rahmen des vorgeschalteten Bestellungsverfahrens gem. § 76 Abs. 2 BetrVG i. V. m. § 98 ArbGG grundsätzlich nicht die Frage zu prüfen hat, ob eine Zuständigkeit der Einigungsstelle für die anstehenden Rechtsfragen, das Bestehen eines gesetzlichen Mitbestimmungsrechts, im positiven Sinn tatsächlich zwingend gegeben ist.

Eine Prüfung dieser - wie das vorliegende Verfahren zeigt - nicht selten schwierigen Fragen wäre nicht mit dem Zweck des Bestellungsverfahrens nach § 98 ArbGG vereinbar, die schnelle Bildung einer Einigungsstelle zu ermöglichen. Das Bestellungsverfahren muss unkompliziert sein und darf, wenn es seinen Zweck erfüllen soll, nicht mit der zeitraubenden Prüfung schwieriger Rechtsfragen belastet sein, wofür auch die gegenüber dem übrigen Beschlussverfahren abweichende vereinfachte Verfahrensregelung des § 98 Abs. 1 u. Abs. 2 ArbGG spricht (vgl. BAG, B. v. 24.11.1981, 1 ABR 42/79, AP Nr. 11 zu § 76 BetrVG 1972; LAG München, B. v. 16.12.2010, aaO) - was im Regelfall auch eine Beweisaufnahme durch Zeugeneinvernahme oder Einholung eines Sachverständigengutachtens ausschließt.

Die eingerichtete Einigungsstelle hat vor einer Sachentscheidung ihre Zuständigkeit - also das Vorliegen eines erzwingbar mitbestimmungspflichtigen Tatbestands, hier nach § 112 Abs. 4 i. V. m. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG - selbst zu prüfen, zumal im Bestellungsverfahren nach § 98 ArbGG eben nicht abschließend und für die Betriebspartner verbindlich über das tatsächliche Bestehen des hierbei in Anspruch genommenen Mitbestimmungsrechts entschieden wird (vgl. BAG, B. v. 25.04.1989, 1 ABR 91/87, AP Nr. 3 zu § 98 ArbGG 1979).

2. Bei Anwendung des vorgenannten Prüfungsmaßstabs ist das vom antragstellenden Betriebsrat begehrte Mitbestimmungsrecht zur Aufstellung eines Sozialplans für die Geschäftsstelle Ma. nicht evident ausgeschlossen.

Vorliegend ist die entscheidende Rechtsfrage, ob durch einen Teilnahmebeschluss der Belegschaft gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG eines sog. qualifizierten Betriebsteils i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG die Fiktionswirkung des Satzes 1 aufgehoben wird und der Betriebsteil nunmehr mit dem Hauptbetrieb betriebsverfassungsrechtlich einen (einzigen) Betrieb bildet. In diesem Falle würden dann bei Zusammenrechnung beider Belegschaftszahlen die erforderlichen Schwellenwerte bei entsprechender Anwendung des § 17 KSchG für die Bestimmung des erheblichen Teils der Belegschaft i. S. d. § 111 Satz 1 BetrVG bzw. der wesentlichen Betriebsteile i. S. d. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG nicht überschritten.

a) Entgegen der Rechtsauffassung der Arbeitgeberin belegen nach Auffassung der Kammer die herangezogenen Entscheide des Bundesarbeitsgerichts nicht, dass die strittige Rechtsfrage bereits entschieden sei.

Einerseits beziehen sich die Entscheide nicht originär auf eine Zuordnung gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG (z. B. die von der Arbeitgeberin zitierte Entscheidung des BAG vom 28.03.2006, 1 ABR 5/05), andererseits beziehen sich andere Entscheidungen auf den vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 23.07.2001 (BGBl. I, S. 1852) geltenden Rechtszustand der Bestimmungen der §§ 4 und 111 BetrVG (z. B. BAG, B. v. 27.06.1995, 1 ABR 62/94 u. v. 19.01.1999, 1 AZR 342/98, jew. zit. n. Juris).

Außerdem stehen die Entscheidungen jeweils im Kontext von möglicherweise unter Verkennung des Betriebsbegriffs durchgeführter Betriebsratswahlen, die nicht angefochten wurden oder nichtig waren. Die vorliegende Fallkonstellation ist jedoch anders. Es liegt keine Verkennung des Betriebsbegriffs vor, sondern § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG setzt gerade für einen Teilnahmebeschluss voraus, dass ein gesetzlich fingierter Betrieb in Form eines qualifizierten Betriebsteils i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG vorliegt, der neben dem Hauptbetrieb besteht. Zutreffend verweist der Betriebsrat darauf, dass eine dem § 3 Abs. 5 BetrVG vergleichbare Regelung in § 4 BetrVG nicht enthalten ist, der in § 4 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz nur auf § 3 Abs. 3 Satz 2 BetrVG verweist.

b) Zuzugeben ist der Arbeitgeberin, dass in der betriebsverfassungsrechtlichen Literatur überwiegend ihre Auffassung unterstützt wird (vgl. z. B. GK-Franzen, BetrVG, § 4 Rz. 22; Däubler, BetrVG, 12. Aufl., § 111 Rz. 34; unklar Fitting, BetrVG, 25. Aufl., § 111

Rzn. 48, 64 u. 75 sowie § 4 Rz. 35). Die meist nicht näher eigenständig begründeten Auffassungen beziehen sich dabei überwiegend auf die Darstellung von Ulrich (NZA 2004, S. 1309).

Die dort favorisierte betriebseinheitliche Sichtweise wird auch damit begründet, dass die Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 4 BetrVG mit der Neueinfügung der Möglichkeit des Zuordnungsbeschlusses für die betriebseinheitliche Betrachtung spräche. Denn eine Zuordnung zu etwas anderem bedinge zwangsläufig die Aufgabe der bis dahin bestehenden rechtlichen Eigenständigkeit. Für eine Einordnung des betriebsratsfähigen Betriebsteils als eigenständiger Betrieb i. S. d. § 111 BetrVG sei nach einem entsprechenden Zuordnungsbeschluss der Arbeitnehmer kein Raum mehr. Sie würden dann vom Betriebsrat des Hauptbetriebs vertreten, gerade weil sie ein nicht (mehr) eigenständiger Teil des Gesamtbetriebs seien.

c) Diese Auffassung wird durch die Beschwerdekammer nicht für zwingend erachtet.

Sie ist nach diesseitiger Auffassung nicht durch den Wortlaut des § 4 Abs. 1 BetrVG geboten und widerspricht auch Sinn und Zweck der durch Gesetz vom 23.07.2001 (aaO) eingeführten Neuregelungen in § 4 Abs. 1 Satz 2 und § 111 Satz 1 BetrVG.

aa) § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG enthält eine gesetzliche Fiktion, wann qualifizierte Betriebsteile bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG als selbstständige Betriebe „gelten“.

Gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG ist dies dann der Fall, wenn der Betriebsteil räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt ist. Dies ist vorliegend - unstreitig - mit einer Entfernung von etwa 350 Kilometern zwischen Mü. und Ma. gegeben.

Neben der weiteren Fiktionswirkung in § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BetrVG enthält Satz 1 keine weiteren Voraussetzungen oder Einschränkungen für die gesetzliche Fiktionswirkung.

Demgegenüber eröffnet Satz 2 in Anknüpfung und bei Vorliegen der gesetzlichen Fiktion den Arbeitnehmern des Betriebsteils eine dreifache Wahlmöglichkeit: Entweder sie bleiben vollkommen untätig, d. h. ohne eigene Wahl eines Betriebsrats und ohne Anschlussbeschluss, dann bestehen keine kollektivrechtlichen Anknüpfungspunkte, oder sie wählen einen eigenen Betriebsrat oder sehen hiervon ab und nehmen an der Wahl des Betriebsrats im Hauptbetrieb teil.

Die redaktionelle Stellung in Satz 2 und die dortige Möglichkeit der Teilnahme der Wahl des Betriebsrats im Hauptbetrieb nur für den Fall, dass im Betriebsteil, der fiktiv als Betrieb gilt, kein eigener Betriebsrat gewählt wurde, lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass zugleich im Falle des Teilnahmebeschlusses die Fiktionswirkungen des Satzes 1 entfallen sollen. Weder Satz 1 noch Satz 2 enthalten insoweit eine Aussage.

Satz 2 kann daher nur seinem Wortlaut entsprechend dahin verstanden werden, dass damit der Belegschaft eine Wahlmöglichkeit dahingehend eröffnet wird, durch welches Betriebsratsgremium - durch das eigene oder durch den Betriebsrat des Hauptbetriebs - ihre betriebsverfassungsrechtlichen Rechte wahrgenommen werden sollen.

Satz 2 beinhaltet seinem Wortlaut nach daher nur die organisatorische Wahl- und Zuordnungsmöglichkeit hinsichtlich des Betriebsratsgremiums, berührt aber nicht die materiellen Mitbestimmungsrechte und ihren Bezug auf den gesetzlich fingierten Betriebsbegriff.

Es entsteht dabei auch kein Legitimationsproblem, denn bei einem Teilnahmebeschluss wählen die Belegschaftsmitglieder des Betriebsrats den sie vertretenden Betriebsrat am Hauptbetrieb mit, in Kenntnis dessen, dass ihre eigene Stimmengewichtung von der regelmäßig zahlenstärkeren Hauptbelegschaft dominiert werden kann. Zugleich müssen sie hinnehmen, dass der für ihre betrieblichen Belange zuständige Betriebsrat des Hauptbetriebs bei der Wahrnehmung ihrer örtlich begrenzten Mitbestimmungsrechte möglicherweise eine Abwägung zu etwa wiederstreitenden Interessen am Hauptbetrieb vornimmt.

bb) Die vorgenannte Rechtsauslegung entspricht auch nach diesseitiger Auffassung dem Sinn und Zweck der neugefassten Bestimmung des § 4 Satz 2 BetrVG sowie des § 111 Satz 1 BetrVG i. d. F. des BetrVG-ReformG.

§ 4 BetrVG soll mit seiner Neufassung dem Umstand abhelfen, dass betriebsratsfähige Betriebsteile, die in der Vergangenheit keinen Betriebsrat gewählt hatten, nicht vom Betriebsrat des Hauptbetriebs mitvertreten wurden (vgl. BT-Dr 14/5741, S. 35). Zudem ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG n. F. den Arbeitnehmern in Betriebsteilen, die als selbstständige Betriebe gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG gelten, in denen ein Betriebsrat aber nicht besteht, nunmehr freigestellt werden soll, ob sie einen eigenen Betriebsrat wählen oder an der Wahl des Betriebsrats im Hauptbetrieb teilnehmen wollen (vgl. Ulrich, aaO). Zugleich wollte der Gesetzgeber mit der Erweiterung der Eingangsvoraussetzung in § 111 Satz 1 BetrVG mit dem Abstellen auf die Unternehmensgröße auch solche Betriebe eines Unternehmens in den grundsätzlichen Anwendungsbereich des § 111 BetrVG integrieren, die ihrerseits nicht mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigen.

Damit wird aus hiesiger Sicht die Intention des Gesetzgebers deutlich, in größeren Unternehmen Betriebe oder qualifizierte Betriebsteile i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG den materiellen Regelungsbereichen der §§ 111 ff BetrVG zu unterstellen.

Damit wird auch die dargestellte Wortlautauslegung des § 4 Abs. 1 BetrVG bestätigt dahingehend, dass es für die Wahrnehmung der materiellen Mitbestimmungsrechte unerheblich ist, ob der als selbstständiger Betrieb geltende Betriebsteil einen eigenen Betriebsrat gewählt oder nach entsprechendem Teilnahmebeschluss an der Wahl des Betriebsrats im Hauptbetrieb mitgewirkt hat. Eine differenzierende Betrachtung dieser Organisationsentscheidung in Bezug auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Mitbestimmungsrechts ist nach der ratio legis aus hiesiger Sicht nicht angezeigt. Denn die Teilnahme an der Betriebsratswahl im Hauptbetrieb soll der Belegschaft des qualifizierten Betriebsteils nur eine Entscheidungsfreiheit und Organisationserleichterung dahingehend bieten, dass statt der aufwendigeren eigenständig durchzuführenden Betriebsratswahl vor Ort man sich quasi an die Wahl im Hauptbetrieb „anhängt“.

cc) Unzutreffend ist daher die Auffassung von Ulrich (aaO), der in diesem Zusammenhang auf eine entsprechende Möglichkeit verweist, dass die Arbeitnehmer eines jeden Betriebs auf ihr Recht, einen Betriebsrat zu wählen, verzichten können.

Das Untätigwerden der Arbeitnehmer in einem betriebsratsfähigen Betrieb bzw. qualifizierten Betriebsteil kann nicht gleichgesetzt werden mit dem Entschluss der Belegschaft, an der Wahl im Hauptbetrieb teilzunehmen. Diese Initiativmöglichkeit ist ihnen nunmehr durch § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG n. F. ausdrücklich eingeräumt. Damit ergibt sich neben der schon dargestellten Wortlautauslegung auch aus dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung nicht, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der materiellen Mitbestimmungsrechte zwischen qualifizierten Betriebsteilen i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG differenzieren wollte, je nach dem, ob sie einen eigenen Betriebsrat gewählt oder von der alternativen Möglichkeit der Teilnahme Gebrauch gemacht haben. Es ist auch nicht erkennbar, warum das Schutzniveau der Mitarbeiter in einem qualifizierten Betriebsteil gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, die einen eigenen Betriebsrat gewählt haben, höher sein sollte als dasjenige der Mitarbeiter, die sich organisationsrechtlich - auch insoweit - durch den Betriebsrat des Hauptbetriebs vertreten lassen wollen.

Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts und der Arbeitgeberin entstünde insoweit hier ein Wertungswiderspruch.

3. Für die Überprüfung der offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle kann dahinstehen, ob und in welcher Weise die vorgenannte Rechtsauffassung auf andere im Betriebsverfassungsgesetz genannte Schwellenwerte, die am Betriebsbegriff ansetzen, zu übertragen sind oder ob eine differenzierende Betrachtungsweise zwischen organisations- und materiell-rechtlichen Normen des Betriebsverfassungsgesetzes vorzunehmen wäre.

4. Da aus den vorgenannten Überlegungen heraus die offensichtliche Unzuständigkeit der beanspruchten Einigungsstelle nicht gegeben ist, war sie antragsgemäß zu bilden, wobei die Betriebsparteien sich im Übrigen auf die Person der Vorsitzenden sowie die Zahl der Beisitzer schon (vorsorglich) geeinigt haben.

Die Einigungsstelle wird daher im Rahmen ihrer originären Entscheidungsbefugnis die Frage der Zuständigkeit zur Aufstellung eines Sozialplans für die Geschäftsstelle Ma. autonom zu klären haben.


III.

Gegen diese Entscheidung findet kein Rechtsmittel statt (§ 98 Abs. 2 Satz 4 ArbGG).

Müller Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht
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