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Text des Beschlusses
BVerwG 2 WD 25.05;
Verkündet am: 
 11.05.2006
BVerwG Bundesverwaltungsgericht
 

Rechtskräftig: unbekannt!
Gesetzlicher Richter; Kameradenbeisitzer; früherer Soldat; Besetzung des Gerichts; Zurückverweisung; Aufhebung des Urteils.
Leitsatz des Gerichts:
1. In einem gerichtlichen Disziplinarverfahren gegen einen früheren Soldaten, dem die Verletzung nachwirkender Dienstpflichten vorgeworfen wird, muss dem Spruchkörper als ehrenamtlicher Richter ein früherer Soldat der gleichen Dienstgradgruppe angehören; maßgebend ist insoweit der Tatzeitpunkt des vorgeworfenen Fehlverhaltens.

2. Bei einer Anschuldigungsschrift, in der sowohl Dienstpflichtverletzungen während des Wehrdienstverhältnisses als auch Verstöße gegen über das Dienstverhältnis hinauswirkende Pflichten zur Last gelegt werden, ist darauf abzustellen, worin der Schwerpunkt der Tatvorwürfe zu sehen ist.

3. Ein Verstoß gegen diese gesetzliche Besetzungsregelung führt jedenfalls bei einer vollen Berufung des früheren Soldaten gegen die Entscheidung der Truppendienstkammer zu einer Aufhebung durch den Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts und einer Zurückverweisung der Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Truppendienstkammer des ersten Rechtszuges.
In einem gerichtlichen Disziplinarverfahren gegen einen früheren Soldaten hatte in der Hauptverhandlung vor dem Truppendienstgericht und am Urteil als ehrenamtlicher Richter aus der Dienstgradgruppe des früheren Soldaten ein Soldat mitgewirkt, der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im aktiven Wehrdienstverhältnis stand. Auf die gegen das Urteil der Truppendienstkammer (Aberkennung des Dienstgrades eines Oberstleutnants der Reserve) eingelegte volle Berufung des früheren Soldaten hat der Senat dieses Urteil aufgehoben und zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des zuständigen Truppendienstgerichts zurückverwiesen.


Gründe:


…

6Das vom früheren Soldaten eingelegte zulässige Rechtsmittel der Berufung (§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 WDO) führt zur Zurückverweisung der Sache an eine (andere) Kammer desselben Truppendienstgerichts zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung, weil ein schwerer Mangel des Verfahrens vorliegt. Die Entscheidung ergeht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO) und in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 WDO).

7Die Truppendienstkammer ist in ihrer Hauptverhandlung am 11. Oktober 2005 unrichtig besetzt gewesen. Nach § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO soll in Verfahren vor der Truppendienstkammer gegen frühere Soldaten wegen eines Verhaltens, das als Dienstvergehen gilt, ein ehrenamtlicher Richter Angehöriger der Reserve sein; er muss der Dienstgradgruppe des früheren Soldaten angehören. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist diese Besetzungsregelung trotz der im Gesetzeswortlaut gewählten Formulierung („soll“) nicht als bloße Ordnungsvorschrift zu verstehen, deren Verletzung grundsätzlich ohne Folgen für den Bestand der Entscheidung bliebe. In Anbetracht des Verfassungsgebots des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, ist sie vielmehr zwingenden Rechts; ihre Beachtung ist im Berufungsverfahren von Amts wegen zu prüfen (vgl. u.a. Beschluss vom 24. September 1991 BVerwG 2 WD 17.91 BVerwGE 93, 161 f. = NZWehrr 1992, 36 - zur sachgleichen Vorgängerregelung des § 69 Abs. 3 Satz 3 WDO a.F. m.w.N). Hieran hält der Senat fest. „Soll“-Vorschriften sind im öffentlichen Recht für die mit ihrer Durchführung betrauten öffentlichen Stellen rechtlich zwingend und verpflichten sie, grundsätzlich so zu verfahren, wie es im Gesetz bestimmt ist. Im Regelfall bedeutet das „Soll“ ein „Muss“. Im vorliegenden Regelungszusammenhang und nach dem Zweck der Vorschrift kommt eine Ausnahme von der in § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO normierten gesetzlichen Vorgabe nicht in Betracht. Aus der Regelung in § 75 Abs. 4 Satz 1 WDO ergibt sich, dass in den Fällen, in denen bei einer Truppendienstkammer ehrenamtliche Richter nach den Absätzen 2 und 3 des § 75 WDO „nicht zur Verfügung stehen“, Soldaten als ehrenamtliche Richter zu berufen „sind“, die bereits als ehrenamtliche Richter einer anderen Kammer des Truppendienstgerichts ausgelost sind; insoweit findet gemäß § 75 Abs. 4 Satz 2 WDO eine besondere Auslosung statt. Diese Regelung sieht mithin nach ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut für den von ihr erfassten Fall des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO, in dem ein Soldat der Reserve zur Mitwirkung als ehrenamtlicher Richter in der Truppendienstkammer nicht zur Verfügung steht, zwingend vor, dass ein Soldat der Reserve aus der Liste der ehrenamtlichen Richter einer anderen Truppendienstkammer zu berufen ist. Wenn das Gesetz selbst für diesen Fall der „Erschöpfung“ der „regulären“ Liste zwingend vorschreibt, dass ein Soldat der Reserve heranzuziehen ist, wäre völlig unverständlich, wenn dies in dem durch § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO geregelten „Normalfall“ anders sein sollte. Außerdem stünde eine Auslegung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO („soll“), wonach der/die Vorsitzende der Truppendienstkammer letztlich entscheiden könnte, ob er/sie einen Soldaten der Reserve zur Mitwirkung als ehrenamtlicher Richter heranzieht oder nicht, zu dem in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG normierten Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters in Widerspruch (vgl. dazu u.a. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Juli 1990 1 BvR 984, 985/87 BVerfGE 82, 286, m.w.N. und vom 8. April 1997 1 PBvU 1/95 BVerfGE 95, 322 ; Hänlein, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, 2002, Art. 101 Rn. 32 m.w.N.), wonach normativ so eindeutig und genau wie möglich bestimmt sein muss, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche/r Richter/in zur Entscheidung des Einzelfalls berufen ist. Ein willkürlicher Zugriff auf die Richterbank, d.h. eine Zuständigkeitsbestimmung von Fall zu Fall im Gegensatz zu einer normativen, abstrakt-generellen Vorherbestimmung des Richters/der Richterin (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1990 a.a.O.), muss so weit wie möglich ausgeschlossen sein (stRspr, BVerfG, Beschluss vom 8. April 1997 a.a.O.; BVerwG, Beschluss vom 11. August 1975 BVerwG 2 WD 24.75 BVerwGE 53, 64 und Urteil vom 9. Februar 1983 BVerwG 2 WD 19.82 BVerwGE 76, 63). Dies muss auch bei der Auslegung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO beachtet werden. Daraus folgt, dass diese „Soll“-Vorschrift als zwingende Regelung zu interpretieren ist, die ein Auswahlermessen bei der Heranziehung der ehrenamtlichen Richter ausschließt.

8Die Vorschrift des § 75 stellt in Abs. 3 Satz 3 WDO im Gegensatz zu Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 und 2 für die Bestimmung der Zugehörigkeit eines angeschuldigten früheren Soldaten zur Gruppe der Angehörigen der Reserve und damit auch derjenigen des betreffenden ehrenamtlichen Richters nicht auf den Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor der Truppendienstkammer, sondern auf den Tatzeitpunkt ab. Denn als Tatbestandsvoraussetzung für die normierte Rechtsfolge, dass ein Angehöriger der Reserve als ehrenamtlicher Richter heranzuziehen ist, ist bestimmt, dass es in dem Verfahren um ein „Verhalten“ geht, „das als Dienstvergehen gilt“. Damit knüpft die Vorschrift an die Regelung in § 23 Abs. 2 SG an, die u.a. normiert, unter welchen Voraussetzungen das Verhalten eines Offiziers (§ 23 Abs. 2 Nr. 2 SG) nach seinem Ausscheiden „als Dienstvergehen gilt“. Die Besetzungsregelung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO bezieht sich mithin auf Verfahren, in denen es um das Verhalten eines Soldaten nach dessen „Ausscheiden aus dem Wehrdienst“ geht. Dies entspricht auch dem vom Gesetzgeber dem gerichtlichen Disziplinarverfahren zugewiesenen Zweck. Im gerichtlichen Disziplinarverfahren wegen eines von § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG erfassten Verhaltens geht es darum, darüber zu entscheiden, ob der frühere Offizier/Unteroffizier durch das unwürdige Verhalten nicht der Achtung und dem Vertrauen gerecht geworden ist, die für seine Wiederverwendung als Vorgesetzter erforderlich sind; außerdem ist über die Notwendigkeit einer gerichtlichen Disziplinarmaßnahme im Hinblick auf die Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Dienstbetriebes zu befinden (vgl. u.a. Urteile vom 17. Mai 1995 BVerwG 2 WD 5.95 BVerwGE 103, 233 = Buchholz 236.1 § 12 SG Nr. 1 = NZWehrr 1996, 165 [insoweit nicht veröffentlicht] und vom 22. März 2006 BVerwG 2 WD 7.05 ). Die durch das Gesetz zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts vom 21. August 1972 erfolgte Einfügung des Satzes 3 in die entsprechende Vorgängerregelung des § 69 Abs. 3 WDO a.F. beruhte wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt auf der Auffassung des Gesetzgebers, dass ein Angehöriger der Reserve als „Kameradenbeisitzer“ im Verfahren gegen einen früheren Soldaten am ehesten die spezifisch über das Dienstverhältnis hinauswirkenden Dienstpflichten beurteilen kann (vgl. dazu u.a. Dau, WDO, 3. Aufl. 1998, § 69 Rn. 12 und 4. Aufl. 2002, § 75 Rn. 12).

9Im vorliegenden Fall fand das von der Anschuldigungsschrift erfasste Verhalten ganz überwiegend nicht während des Wehrdienstes statt, sondern „nach dem Ausscheiden aus dem Wehrdienst“. In Anschuldigungspunkt 1 wird dem früheren Soldaten eine im Oktober 1997 und damit außerhalb des Wehrdienstverhältnisses begangene Handlung gegenüber seinem Mitgesellschafter und der BGB-Gesellschaft vorgeworfen. Die von Anschuldigungspunkt 2 erfassten Anträge des früheren Soldaten auf Leistungen nach § 13a USG vom … sollen ebenfalls nach dem im Jahre 1970 erfolgten Ausscheiden des Antragstellers aus der Bundeswehr und außerhalb der Zeiträume erfolgt sein, in denen der frühere Soldat danach Wehrübungen ableistete. Lediglich das ihm unter Anschuldigungspunkt 2 in der siebten Strichaufzählung zur Last gelegte Fehlverhalten im Zusammenhang mit seinem Antrag vom 3. März 1998 soll während eines Wehrübungszeitraums (vom 2. März bis 20. März 1998) erfolgt sein.

10Aus dem Wortlaut der Regelung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO lässt sich nicht entnehmen, dass sie nur zur Anwendung kommen soll, wenn sich die Truppendienstkammer in der Hauptverhandlung ausschließlich mit einem Verhalten des früheren Soldaten auseinandersetzen muss, „das als Dienstvergehen gilt“. Vielmehr ist bei einer Anschuldigungsschrift, in der sowohl Dienstpflichtverletzungen während des Wehrdienstverhältnisses als auch Verstöße gegen über das Dienstverhältnis hinauswirkende Pflichten zur Last gelegt werden, darauf abzustellen, worin der Schwerpunkt der Tatvorwürfe zu sehen ist (so auch Lingens, in: NZWehrr 1988, 59 ). Eine Aufspaltung der Verfahren würde sowohl dem Gebot der einheitlichen Ahndung mehrerer Pflichtverletzungen (§ 18 Abs. 2 WDO) als auch dem gesetzlichen Beschleunigungsgebot für Disziplinarsachen (§ 17 Abs. 1 WDO) widersprechen.

11Im vorliegenden Fall liegt der Schwerpunkt der Tatvorwürfe in den angeschuldigten Verstößen des früheren Soldaten gegen die nachwirkende Dienstpflicht des § 17 Abs. 3 i.V.m. § 23 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. SG. … (wird ausgeführt)

12Durch die am 11. Oktober 2005 erfolgte Mitwirkung des der Dienstgradgruppe des früheren Soldaten angehörenden Soldaten Major i.G. B., der im Stab der … im aktiven Wehrdienst gestanden hat, als ehrenamtlicher Richter in der Hauptverhandlung gegen den wegen einer Verletzung nachwirkender Dienstpflichten angeschuldigten früheren Soldaten war daher die Truppendienstkammer nicht in Übereinstimmung mit § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO und mithin unrichtig besetzt.

13Da einem Soldaten nach den Regelungen der Wehrdisziplinarordnung das Recht zusteht, dass seine Sache in zwei ordnungsgemäß besetzten Instanzen verhandelt und entschieden wird, stellt die Verletzung der Besetzungsregelung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO einen schweren Verfahrensmangel dar (stRspr, vgl. u.a. Beschluss vom 24. September 1991 BVerwG 2 WD 17.91 a.a.O. zur Vorgängerregelung § 69 Abs. 3 Satz 3 WDO a.F.).

14Zwar steht die Entscheidung darüber, ob der Senat bei Vorliegen eines schweren Verfahrensmangels ungeachtet dessen in der Sache selbst entscheidet oder ob er das Urteil der Truppendienstkammer aufhebt und die Sache an eine andere Kammer desselben Truppendienstgerichts oder eines anderen Truppendienstgerichts zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung zurückverweist, in seinem Ermessen (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO).

15Jedenfalls dann, wenn der betroffene Soldat in vollem Umfange Berufung eingelegt hat, hat der Senat jedoch in ständiger Rechtsprechung das von der Truppendienstkammer in unrichtiger Besetzung gefällte Urteil regelmäßig aufgehoben und die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des ersten Rechtszuges zurückverwiesen, und zwar unabhängig davon, ob die unrichtige Besetzung vom Berufungsführer in der Berufungsbegründung gerügt worden ist oder nicht (vgl. u.a. Urteil vom 9. Februar 1983 BVerwG 2 WD 19.82 a.a.O., S. 64 m.w.N.).

16Dafür maßgebend ist, dass dem betroffenen Soldaten das in der Wehrdisziplinarordnung für das gerichtliche Disziplinarverfahren vorgesehene Recht erhalten bleiben soll, seinen Fall in zwei ordnungsgemäß besetzten Instanzen verhandelt und entschieden zu sehen. Denn mit der Einlegung einer vollen Berufung hat der jeweilige Berufungsführer zum Ausdruck gebracht, dass er die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die rechtliche Würdigung der Truppendienstkammer und die Grundlagen der Zumessungsentscheidungen für fehlerhaft hält. In diesen Fällen ist die Möglichkeit jedenfalls nicht auszuschließen, dass die unrichtige Besetzung der Truppendienstkammer zu den nach Meinung des Berufungsführers unrichtigen Entscheidungsgrundlagen geführt hat. In solchen Fällen beurteilt deshalb der Senat regelmäßig das Interesse des Berufungsführers an zwei ordnungsgemäß besetzten Tatsacheninstanzen als vorrangig gegenüber dem Beschleunigungsgebot des § 17 Abs. 1 WDO (vgl. u.a. Urteil vom 9. Februar 1983 BVerwG 2 WD 19.82 a.a.O., S. 65; Beschluss vom 24. September 1991 BVerwG 2 WD 17.91 a.a.O., S. 162). Daran hält der Senat aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) und der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) auch im vorliegenden Falle fest, auch wenn der frühere Soldat den Verstoß gegen § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO nicht explizit gerügt und von der ihm durch die gerichtliche Verfügung eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht hat. …

Prof. Dr. Widmaier Dr. Frentz Dr. Deiseroth
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