Text des Beschlusses
1 BvR 13/97;
Verkündet am:
19.03.1998
BVerfG Bundesverfassungsgericht
Vorinstanzen:
10 Sa 100/96
Landesarbeitsgericht
Sachsen;
Rechtskräftig: unbekannt!
Archiv - Mittellanger Beschluß (ap)
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Z...
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Peter Hantel, Bergmannstraße 7, Berlin -
gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 4. September 1996 - 10 Sa 100/96 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Richter Kühling, die Richterin Jaeger und den Richter Steiner
am 19. März 1998 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 4. September 1996 - 10 Sa 100/96 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 Absatz 2 und aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die ordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers, der Fragen seines Arbeitgebers nach Tätigkeiten für das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik (MfS) unzutreffend beantwortet hat.
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1.
a) Der Beschwerdeführer war seit 1959 Lehrer; seit 1960 unterrichtete er an einer polytechnischen Oberschule. Arbeitgeber war nach dem Beitritt der im Ausgangsverfahren beklagte Freistaat Sachsen. Die ihm gestellten Fragen nach einer Tätigkeit für das MfS verneinte der Beschwerdeführer im Februar 1991. Ein Bericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes von Dezember 1994 ergab, daß der Beschwerdeführer sich mit einer von ihm unterzeichneten Verpflichtungserklärung von November 1960 zur Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet hatte. Außerdem wurde mitgeteilt, der Beschwerdeführer sei als Geheimer Informant (GI) geführt worden und habe einen schriftlichen, mit seinem Decknamen unterzeichneten, Bericht gefertigt. Außerdem habe es 21 Treffberichte des Führungsoffiziers gegeben. Ein letztes Treffen habe im Dezember 1962 stattgefunden. Mit Beschluß des MfS aus Februar 1963 sei die Zusammenarbeit mit dem Beschwerdeführer eingestellt worden.
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In einem Antrag auf Anerkennung von Beschäftigungszeiten verneinte der Beschwerdeführer die ihm gestellten Fragen nach einer Zusammenarbeit mit dem MfS ebenfalls. Der beklagte Freistaat kündigte das Arbeitsverhältnis des Beschwerdeführers im Februar 1995 außerordentlich gemäß Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Nr. 2 des Einigungsvertrages, im März 1995 hilfsweise auch ordentlich.
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b) Das Arbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage des Beschwerdeführers statt. Das Landesarbeitsgericht änderte das Urteil teilweise ab und stellte fest, daß das Arbeitsverhältnis zwar nicht durch die außerordentliche, aber durch die ordentliche Kündigung aufgelöst worden sei. Die Berichtstätigkeit des Beschwerdeführers habe nur circa zwei Jahre gedauert und liege schon ungefähr 33 Jahre zurück. Sie stelle sich damit nicht mehr als so gewichtig dar, daß ein Festhalten an dem Arbeitsverhältnis nicht zumutbar wäre. Die ordentliche Kündigung sei hingegen gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Die Falschbeantwortung von Fragen nach einer Tätigkeit für das MfS offenbare regelmäßig die mangelnde persönliche Eignung für eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Der Beschwerdeführer habe die ihm im Erklärungsbogen von Februar 1991 gestellten Fragen nach einer Tätigkeit für das MfS bewußt wahrheitswidrig verneint.
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c) Das Bundesarbeitsgericht wies die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zurück.
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d) Mit seiner fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG sowie seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts.
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2. Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Vorsitzende des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts und der Deutsche Gewerkschaftsbund Stellung genommen.
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II.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG und seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Urteil des Landesarbeitsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in den genannten Grundrechten. Die für diese Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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1.
a) Art. 12 Abs. 1 GG schützt unter anderem die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Diese umfaßt neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch den Willen des Einzelnen, den Arbeitsplatz beizubehalten. Das Grundrecht entfaltet seinen Schutz gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit beschränken (vgl. dazu im einzelnen BVerfGE 84, 133 <146>; 92, 140 <150>). Soweit es um Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes geht, trifft Art. 33 Abs. 2 GG eine ergänzende Regelung.
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b) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verleiht jedem unter anderem die Befugnis, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen er persönliche Sachverhalte offenbaren will (vgl. BVerfGE 65, 1 <41 f.> - informationelle Selbstbestimmung - m.w.N.; 85, 219 <224>). In besonderer Weise schützt das Grundrecht vor dem Verlangen, Informationen preiszugeben, die den Betroffenen selbst belasten. Auskunftspflichten, die darauf gerichtet sind, berühren daher das allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl. BVerfGE 56, 37 <41 ff.>).
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c) Das Urteil des Landesarbeitsgerichts, das die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Beschwerdeführers bestätigt, greift in diese Rechte des Beschwerdeführers ein.
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2.
a) Die Arbeitsplatzwahl kann ebenso wie die anderen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 GG durch Gesetz beschränkt werden. Bei der Auslegung und Anwendung von arbeitsrechtlichen Kündigungsvorschriften im öffentlichen Dienst müssen die Gerichte allerdings den Schutz beachten, den Art. 12 Abs. 1 GG insofern gewährt. Steht zugleich die Eignung für den öffentlichen Dienst in Rede, tritt Art. 33 Abs. 2 GG ergänzend hinzu. Diese Rechte sind verletzt, wenn ihre Bedeutung und Tragweite bei der Auslegung und Anwendung der arbeitsrechtlichen Vorschriften grundsätzlich verkannt wird. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert (BVerfGE 92, 140 <152 f.>).
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b) Wie die Berufsfreiheit strahlt auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Vorschriften aus. Der Richter hat daher von Verfassungs wegen zu prüfen, ob von ihrer Anwendung im Einzelfall dieses Grundrecht berührt wird. Trifft das zu, dann hat er diese Vorschriften im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. BVerfGE 84, 192 <194 f.>; 96, 171 <184>).
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3.
a) Grundsätzlich waren Fragen des öffentlichen Arbeitgebers nach einer früheren Tätigkeit des Arbeitnehmers für das MfS verfassungsrechtlich unbedenklich. Auch mit ihnen wurde der legitime Zweck einer Eignungsüberprüfung der aus dem öffentlichen Dienst der Deutschen Demokratischen Republik übernommenen Arbeitnehmer verfolgt, und auch sie waren zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich. Den Betroffenen war grundsätzlich die Beantwortung dieser Fragen zuzumuten (vgl. BVerfGE 96, 171 <186 f.>).
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b) Tätigkeiten für das MfS, die vor dem Jahre 1970 abgeschlossen waren, taugen jedoch wegen des erheblichen Zeitablaufs regelmäßig nicht mehr als Indiz für eine mangelnde Eignung. Ausnahmsweise relevante Fragen nach Vorgängen, die mehr als 20 Jahre vor dem Beitritt abgeschlossen waren, stehen außer Verhältnis zu der Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Befragten; die Arbeitnehmer durften vor dem Jahre 1970 abgeschlossene Vorgänge daher verschweigen, dem öffentlichen Arbeitgeber ist es verwehrt, arbeitsrechtliche Konsequenzen aus einer unzutreffenden Antwort zu ziehen (vgl. BVerfGE 96, 171 <188 f.>).
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4. Diesen Maßstäben wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht gerecht. Es verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG und aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
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Die Tätigkeit des Beschwerdeführers für das MfS beschränkte sich auf einen kurzen Zeitraum zu Beginn der 60er Jahre. Es war ihm danach nicht zuzumuten, die zeitlich unbeschränkte Frage nach Tätigkeiten für das MfS in vollem Umfang wahrheitsgemäß zu beantworten. Die vor dem Jahre 1970 abgeschlossenen Vorgänge durfte er verschweigen. Auf einen charakterlichen Mangel, der seine persönliche Eignung in Frage stellen könnte, deutet sein Verhalten unter diesen Umständen nicht hin. Auf die falsche Antwort auch in seinem Antrag auf Anerkennung von Beschäftigungszeiten hat das Landesarbeitsgericht die ordentliche Kündigung nicht gestützt. Ob der Beschwerdeführer insoweit ebenfalls unzutreffende Angaben machen durfte, bedarf daher keiner Entscheidung.
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Steiner Jaeger Kühling
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