Text des Beschlusses
2 BvR 962/98;
Verkündet am:
07.08.1998
BVerfG Bundesverfassungsgericht
Vorinstanzen:
2 Ws 224/98
Oberlandesgericht
Düsseldorf;
Rechtskräftig: unbekannt!
Archiv - Mittellanger Beschluß (ap)
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S...
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Manfred Hennen und Kollege, Königstraße 26-28, Duisburg -
gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 11. Mai 1998 - 2 Ws 224/98 -
und Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die
Richterin Graßhof, den Richter Kirchhof und den Richter Jentsch
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 7. August 1998 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 11. Mai 1998 - 2 Ws 224/98 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
2. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten. Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen für das Verfahren über den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft (§§ 121, 122 StPO).
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A.
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I.
1. Der Beschwerdeführer wurde am 18. Juni 1996 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Duisburg vom 25. April 1996 festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihm werden mehrere Straftaten des Betrugs zur Last gelegt.
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2. Das Oberlandesgericht Düsseldorf ordnete im Verfahren der besonderen Haftprüfung gemäß §§ 121 f. StPO mit dem angefochtenen Beschluß vom 11. Mai 1998 die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Der Beschluß enthält nur die Begründung, die Untersuchungshaft aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Duisburg vom 25. April 1996 dauere aus den weiter bestehenden Gründen des Senatsbeschlusses vom 23. Januar 1998 in Verbindung mit dem der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Duisburg vom 29. März 1998 zugrundeliegenden Ermittlungsergebnis fort; der Angeschuldigte sei insbesondere der in der Anklageschrift genannten Straftaten aufgrund der dort bezeichneten Beweismittel dringend verdächtig. Der Senat gehe davon aus, daß die Hauptverhandlung nach Eröffnung des Hauptverfahrens alsbald beginnen werde.
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II.
Mit seiner rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.
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Der Beschluß lasse die gebotene und erforderliche Abwägung des Freiheitsanspruchs mit dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafverfolgung nicht erkennen. Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft fehlten gänzlich.
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III.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
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B.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG.
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I.
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angelegt (vgl. BVerfGE 46, 194 <195> m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in ständiger Rechtsprechung betont, daß der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 20, 45 <49 f.>) und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößern kann (vgl. BVerfGE 36, 264 <270>) und regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 53, 152 <158 f.>). Auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen. Dem trägt § 121 Abs. 1 StPO insoweit Rechnung, als der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO läßt nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45 <50>; 36, 264 <270 f.>).
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2. Die besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung einer langen Dauer der Untersuchungshaft gebieten es auch, daß das Oberlandesgericht sich bei der im Abstand von drei Monaten zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen auseinandersetzt und seine Entscheidung begründet. Das ist im Strafprozeßrecht auch so vorgesehen und ergibt sich zunächst aus dem Verweis in § 122 Abs. 3 Satz 1 StPO auf § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO. Im übrigen folgt für die Ablehnung eines Antrages (des Beschuldigten oder der Staatsanwaltschaft) die Begründungspflicht aus § 34 StPO. An die Begründung einer Entscheidung nach §§ 121 f. StPO sind zudem höhere Anforderungen als an die einer den Rechtsweg abschließenden Entscheidung (vgl. dazu: BVerfGE 65, 293 <295>) zu stellen, da das Oberlandesgericht im Rahmen der besonderen Haftprüfung eine nur ihm vorbehaltene eigene Sachprüfung vornimmt und zugleich erst- und letztinstanzlich entscheidet. Insbesondere hat es dabei auch die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO darzustellen und zu begründen. Zwar ist bei der Begründung eine Bezugnahme auf frühere Haftentscheidungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen; es werden jedoch regelmäßig aktuelle Ausführungen zu den Voraussetzungen des § 121 StPO, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten sein, da sich die dafür maßgeblichen Umstände insbesondere angesichts der seit der letzten Entscheidung verstrichenen Zeit in ihrer Gewichtigkeit verschieben können.
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II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen an eine nach § 121 Abs. 1 StPO zu treffende Entscheidung wird der angegriffene Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 11. Mai 1998 nicht gerecht.
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Der angefochtene Beschluß erschöpft sich im wesentlichen in einer Bezugnahme auf einen früheren Beschluß vom 23. Januar 1998. Die durch das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschwerdeführers und dem Strafverfolgungsinteresse wurde nicht dargestellt. Eine bloße Verweisung auf einen früheren Haftprüfungsbeschluß kann schon deshalb die Haftfortdauer nicht rechtfertigen, weil sich das Gewicht des in die (erneute) Abwägung einzustellenden Freiheitsinteresses des Beschwerdeführers in den folgenden Monaten regelmäßig vergrößert haben wird. Die Erforderlichkeit einer detaillierten Begründung zur Verhältnismäßigkeit weiterer Untersuchungshaft liegt hier besonders nahe, da sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Entscheidung bereits fast zwei Jahre in Untersuchungshaft befand und das Oberlandesgericht in dem Beschluß vom 23. Januar 1998 die Überzeugung vertreten hatte, daß die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft "gegenwärtig noch" gewahrt sei. Darüber hinaus fehlt es an einer ausreichenden Darstellung des in § 121 StPO geforderten wichtigen Grundes.
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III.
Der angegriffene Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf war gemäß §§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
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IV.
Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (vgl. BVerfGE 34, 293 <307>).
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V.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerde-Verfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Erstattung der notwendigen Auslagen auch für den Eilantrag entspricht nicht der Billigkeit (§ 34a Abs. 3 BVerfGG; vgl. BVerfGE 89, 91 <97>), da die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG im vorliegenden Fall nicht vorlagen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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Graßhof Kirchhof Jentsch
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